»Was wirst du in Persien tun, Vater?«
»Wahrscheinlich heiraten«, antwortete er gleichmütig und küßte uns feierlich und versonnen, »ich werde euch hin und wieder besuchen, und wenn dieser Staat zerfallen sollte — nun, ich habe einige Güter in Masendaran.«
Er bestieg die Falltreppe, stand auf Deck und winkte lange, uns, der alten Mauer, dem breiten Mädchenturm, der Stadt und der Wüste, die langsam seinen Blicken entschwanden.
In der Stadt war es heiß, und die Fenster des Ministeriums waren halb verhängt. Die russischen Beauftragten kamen und hatten gelangweilte und verschlagene Gesichter. Sie unterschrieben gleichgültig und eilig den endlosen Vertrag, der in Paragraphen, Absätze und Fußnoten zerfiel.
Staub und Sand bedeckten unsere Straßen, heißer Wind wirbelte Papierfetzen durch die Luft, die fürstlichen Schwiegereltern fuhren über den Sommer nach Georgien, und bei Jalama standen immer noch eine Patrouille und wenige Beamte.
»Assadullah«, wandte ich mich an den Minister, »jenseits von Jalama stehen dreißigtausend Russen.«
»Ich weiß«, sagte er finster, »unser Stadtkommandant meint, es handle sich nur um Manöver.«
»Und wenn es keine sind?«
Er sah mich gereizt an.
»Unsere Sache ist es, Verträge abzuschließen. Alles andere liegt in der Hand Gottes.«
Ich ging durch die Straßen und sah ein paar wackere Gardisten mit aufgepflanzten Bajonetten, die das Gebäude des Parlaments bewachten. Im Parlament drohten die russischen Arbeiter mit Streik, falls die Regierung die Ölzufuhr nach Rußland nicht freigebe.
Männer füllten die Kaffeehäuser, lasen Zeitungen und spielten Nardy. Kinder balgten sich im heißen Staub. Die Stadt war von Sonnenglut übergossen, und vom Gebetturm ertönte der Ruf:
»Steht auf zum Gebet! Steht auf zum Gebet! Das Gebet ist besser als der Schlaf!«
Ich schlief nicht, ich lag auf dem Teppich mit geschlossenen Augen und sah die Grenzstation Jalama von dreißigtausend russischen Soldaten bedroht.
»Nino«, sagte ich, »es ist heiß, das Spielzeug ist die Sonne nicht gewohnt, und du liebst Bäume, Schatten und Wasser. Willst du über den Sommer zu deinen Eltern nach Georgien?«
»Nein«, sagte sie streng, »ich will nicht.«
Ich schwieg, und Nino runzelte gedankenvoll die Stirn.
»Wir sollten aber gemeinsam verreisen, Ali Khan, es ist heiß in der Stadt. Du hast doch ein Gut bei Gandscha, inmitten von Gärten und Weinreben. Fahren wir hin, du bist dort wie zu Hause, und das Spielzeug hat Schatten.«
Ich konnte nichts einwenden. Wir fuhren ab, und die Wagen unseres Zuges prangten im vollen Schmuck der neuen aserbaidschanischen Hoheitszeichen.
Eine breite, staubige und lange Straße führte vom Bahnhof zur Stadt Gandscha. Niedrige Häuser umgaben die Kirchen und Moscheen. Ein trockenes Flußbett trennte das mohammedanische vom armenischen Viertel, und ich zeigte Nino den Stein, an dem vor hundert Jahren mein Ahne Ibrahim den russischen Kugeln erlegen war. Draußen auf unserem Gut lagen träge Büffel regungslos und faul bis über die Brust im kalten Wasser. Es roch nach Milch, und die Trauben hatten die Größe von Kuhaugen. Die Schädel der Bauern waren in der Mitte ausrasiert und trugen rechts und links lange, nach vorne gekämmte Haarbüschel. Das kleine Haus mit der Holzveranda war von Bäumen umgeben, und das Spielzeug lachte beim Anblick der Pferde, Hunde und Hühner.
Wir richteten uns im Hause ein, und ich vergaß für Wochen das Ministerium, die Verträge und die Grenzstation Jalama. Wir lagen im Gras, und Nino kaute an den bitteren Halmen. Ihr Gesicht, von Sonne gebräunt, war klar und friedlich wie der Himmel über Gandscha. Sie war zwanzig Jahre alt und immer noch viel zu schlank für die Begriffe des Orients.
»Ali Khan, dieses Spielzeug gehört aber ganz mir. Das nächste Mal wird es ein Knabe sein, den kannst du haben.«
Dann entwarf sie ausführliche Pläne für die Zukunft des Spielzeuges, in denen Tennis, Oxford, französische und englische Sprachstudien vorkamen, ganz nach europäischem Muster.
Ich schwieg, denn das Spielzeug war noch sehr klein, und bei Jalama standen dreißigtausend Russen. Wir spielten im Gras und aßen auf breiten Teppichen im Schatten der Bäume. Nino schwamm in dem kleinen Fluß, etwas oberhalb der Stelle, an der die Büffel badeten. Bauern mit runden, kleinen Mützen kamen herbei, verbeugten sich vor ihrem Khan und brachten Körbe mit Pfirsichen, Äpfeln und Trauben. Wir lasen keine Zeitungen und bekamen keine Briefe, die Welt endete für uns am Rande des Gutes, und es war beinahe so schön wie im Aul in Daghestan.
An einem späten Sommerabend saßen wir im Zimmer und hörten von weitem dumpfes Pferdegetrappel. Ich trat auf die Veranda, und eine schlanke Gestalt im schwarzen Tscherkessenrock sprang vom Pferd.
»Iljas Beg«, rief ich und streckte ihm die Hände entgegen. Er erwiderte nicht den Gruß. Er stand im Scheine der Petroleumlampe, und sein Gesicht war grau und eingefallen.
»Die Russen sind in Baku«, sagte er hastig.
Ich nickte, als wäre es mir längst bekannt. Nino stand hinter mir, und ein leiser Schrei entfuhr ihren Lippen:
»Wie ist das geschehen, Iljas Beg?«
»In der Nacht kamen die Züge von Jalama, besetzt mit russischen Soldaten. Sie schlossen die Stadt ein, und das Parlament kapitulierte. Alle Minister, die nicht fliehen konnten, wurden verhaftet, das Parlament aufgelöst. Die russischen Arbeiter stellten sich auf die Seite ihrer Landsleute. Es gab keine Soldaten in Baku, und die Armee stand auf verlorenem Posten an der Grenze Armeniens. Ich will Freischaren sammeln.«
Ich wandte mich um. Nino verschwand im Hause, während die Diener die Pferde vor den Wagen spannten. Sie packte die Sachen und sprach mit dem Spielzeug leise und in der Sprache ihrer Ahnen. Dann fuhren wir durch die Felder, Iljas ritt neben uns. In der Ferne leuchteten die Lichter von Gandscha, und für einen Augenblick fühlte ich, wie Gegenwart und Vergangenheit in mir ineinander übergingen. Ich sah Iljas Beg, mit dem Dolch im Gurt, blaß und ernst, und Nino, gefaßt und stolz, wie einst beim Melonenfeld von Mardakjany.
Nachts kamen wir in Gandscha an. Die Straßen waren voller Menschen, die Gesichter voller Aufregung und Spannung. Auf der Brücke, die Armenier und Mohammedaner voneinander trennte, standen Soldaten mit schußbereiten Gewehren, und die Fackeln beleuchteten die Fahne Aserbaidschans am Balkon des Regierungsgebäudes.
Ich sitze an der Mauer der großen Moschee von Gandscha. Ein Suppenteller steht vor mir, und Soldaten mit müden Gliedern liegen im Hof. Vom Flusse her kläffen die Maschinengewehre. Ihr böses Bellen dringt in den Moscheehof, und die Republik Aserbaidschan hat nur noch wenige Tage zu leben.
Ich sitze abseits im großen Hof. Mein Heft liegt vor mir, und ich fülle es mit hastigen Zeilen, die die Vergangenheit noch einmal festhalten sollen.
Wie war das, damals, vor acht Tagen, in dem kleinen Hotelzimmer in Gandscha?
»Du bist wahnsinnig«, sagte Iljas Beg.
Es war drei Uhr nachts, und Nino schlief im Nebenzimmer.
»Du bist wahnsinnig«, wiederholte er und ging im Zimmer auf und ab.
Ich saß am Tisch, und die Meinung Iljas Begs war für mich das Unwichtigste auf Erden.
»Ich bleibe hier. Die Freischärler kommen. Wir werden kämpfen. Ich fliehe nicht aus meinem Lande.«
Ich sprach leise und wie im Traume. Iljas Beg blieb stehen und sah mich traurig und trotzig an.
»Ali Khan, wir sind zusammen zur Schule gegangen und balgten uns mit den Russen in der großen Pause. Ich ritt hinter dir, als du den Wagen Nachararjans verfolgtest. Ich brachte Nino in meinem Sattel nach Hause, und wir kämpften zusammen an der Pforte Zizianaschwilis. Jetzt mußt du fort. Ninos wegen, deinetwegen, des Landes wegen, das dich vielleicht noch einmal brauchen wird.«
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