»Jetzt verflucht sie dich«, sagte der Vater ruhig, »jede Frau verflucht ihren Mann in den Stunden des Gebärens. In früheren Zeiten mußte die Frau nach der Geburt einen Hammel schlachten und mit seinem Blute die Lagerstätten des Mannes und des Kindes bespritzen, um das Unheil abzuleiten, das sie während ihrer Wehen über die beiden heraufbeschworen hatte.«
»Wie lange kann es dauern, Vater?«
»Fünf Stunden, sechs Stunden, vielleicht zehn Stunden. Sie hat schmale Hüften.«
Er verstummte. Vielleicht dachte er an die eigene Frau, die meine Mutter war und im Wochenbett starb. Plötzlich erhob er sich.
»Komm«, sagte er, und wir gingen zu den beiden roten Gebetteppichen in der Mitte des Daches. Die oberen Enden der Teppiche waren gen Mekka gewandt, in Richtung der heiligen Kaaba. Wir zogen die Schuhe aus. Wir stellten uns auf die Teppiche und falteten die Hände, mit der rechten Handfläche den linken Handrücken bedeckend.
»Das ist alles, was wir tun können, aber das ist mehr als alle Weisheit der Ärzte.«
Er beugte sich vor und sprach die arabischen Worte des Gebetes:
»Bismi ilahi rrahmani rahim — Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen…«
Ich folgte ihm. Ich kniete auf dem Gebetteppich, und meine Stirn berührte den Boden.
»Alhamdu lillahi rabi-1-alamin, arrahmani rahim, maliki jaumi din — Gelobt sei Gott, der Herr der Welten, der Allerbarmer, der Allbarmherzige, der Herr des Jüngsten Gerichtes…«
Ich saß auf dem Teppich, und meine Hände verdeckten mein Gesicht. Ninos Schreie streiften mein Ohr, aber ich erfaßte sie nicht mehr. Meine Lippen formten von selbst die Sätze des Korans:
»Ijjaka na budu waijjaka nastain — Dich verehren wir, und dich flehen wir um Gnade an…«
Meine Hände lagen jetzt auf meinen Knien. Es war sehr still, und ich hörte das Flüstern meines Vaters:
»Ihdina sirata-lmustaqim sirata lladina anammta alaihim — Führ uns auf den rechten Weg, auf den Weg derer, denen du gnädig bist…«
Die roten Linien des Gebetteppichs verschwammen vor meinen Augen. Mein Gesicht lag auf dem Teppich.
»Gaira lmagdumi alaihim wala ddalin — Denen du nicht zürnest und die du nicht irreführst…«
So lagen wir im Staube, vor dem Antlitz des Herrn. Wieder und immer wieder sprachen wir die Worte des Gebetes, die Gott einst dem Propheten in Mekka in der fremden Zunge der arabischen Nomaden eingegeben hatte. Ninos Schreie verstummten. Ich saß mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich, der Rosenkranz glitt durch meine Hände, und meine Lippen flüsterten die dreiunddreißig Namen des Herrn.
Jemand berührte meine Schulter. Ich hob den Kopf, sah ein lächelndes Gesicht und hörte unverständliche Worte. Ich erhob mich. Ich fühlte die Blicke des Vaters auf mir ruhen und stieg langsam die Treppe hinab.
Die Fenster in Ninos Zimmer waren verhängt. Ich näherte mich dem Bette. Ninos Augen waren voll Tränen. Ihre Wangen waren eingefallen. Sie lächelte still und sagte plötzlich auf tatarisch, in der einfachen Sprache unseres Volkes, die sie kaum beherrschte:
»Kis dir, Ali Khan, tschoch gusel bir kis. O kadar bahtiarim — Es ist ein Mädchen, Ali Khan, ein herrliches Mädchen, ich bin so glücklich.«
Ich ergriff ihre kalten Hände, und sie schloß die Augen.
»Laß sie nicht einschlafen, Ali Khan, sie muß noch eine Weile wach bleiben«, sagte jemand hinter meinem Rücken.
Ich streichelte ihre trockenen Lippen, und sie blickte zu mir auf, ruhig und ermattet. Eine Frau in weißer Schürze näherte sich dem Bett. Sie hielt mir ein Bündel hin, und ich sah ein kleines, runzliges Spielzeug, mit winzigen Fingerchen und großen, ausdruckslosen Augen. Das Spielzeug weinte mit verzogenem Gesicht.
»Wie schön sie ist«, sagte Nino verzückt und spreizte die Finger, die Bewegungen des Spielzeugs nachahmend. Ich hob die Hand und berührte furchtsam das Bündel, aber das Spielzeug schlief bereits mit ernstem und gerunzeltem Gesicht.
»Wir werden es Tamar nennen, zu Ehren des Lyzeums«, flüsterte Nino, und ich nickte, denn Tamar war ein schöner Name, gleich gebräuchlich bei Christen und Muslims.
Jemand führte mich aus dem Zimmer. Neugierige Blicke streiften mich, und mein Vater nahm mich an der Hand. Wir gingen in den Hof.
»Wir wollen in die Wüste hinausreiten«, sagte er, »Nino darf bald einschlafen.«
Wir bestiegen die Pferde und sausten im wilden Galopp durch die gelbsandigen Dünen. Mein Vater sprach etwas, doch nur mit Mühe verstand ich, daß er mich zu trösten versuchte. Ich begriff nicht, warum, denn ich war sehr stolz, eine runzlige, schlafende Tochter zu haben, mit grüblerischem Gesicht und ausdruckslosen Augen.
Tage zogen vorbei, wie Steine an der Schnur des Rosenkranzes. Nino hielt das Spielzeug an ihrer Brust. Nachts sang sie ihm leise georgische Weisen vor und schüttelte gedankenvoll den Kopf beim Anblick ihres kleinen, runzligen Ebenbildes. Zu mir war sie grausam und überheblich wie nie zuvor, denn ich war nur ein Mann, unfähig, zu gebären, zu stillen und mit Windeln umzugehen. Ich saß im Ministerium, wühlte in den Akten, und sie rief mich gnädig an und meldete gewaltige Ereignisse und umstürzlerische Taten.
»Ali Khan, das Spielzeug hat gelacht und spreizte die Hände in Richtung der Sonne.«
»Es ist ein sehr kluges Spielzeug, Ali Khan, ich zeigte ihm eine Glaskugel, und es blickte nach ihr.«
»Hör zu, Ali Khan, das Spielzeug zeichnet mit dem Finger Linien auf seinem Bauch. Es scheint ein begabtes Spielzeug zu sein.«
Doch während das Spielzeug Linien auf seinem Bauche zeichnete und mit aufgeregten Blicken eine Glaskugel verfolgte, spielten im fernen Europa erwachsene Menschen mit Grenzen, Armeen und Staaten. Ich las die Berichte auf meinem Tisch und blickte auf die Landkarte, auf der die fragwürdigen Grenzen der künftigen Welt verzeichnet waren. Geheimnisvolle Menschen mit schwer aussprechbaren Namen saßen in Versailles und bestimmten das Schicksal des Orients. Nur ein einziger Mann, ein blonder türkischer General aus Ankara, wagte noch verzweifelten Widerstand gegen die Sieger. Unser Land Aserbaidschan wurde von den europäischen Mächten als selbständig anerkannt, und es kostete mich einige Mühe, den begeisterten Iljas Beg mit der Nachricht zu ernüchtern, daß englische Regimenter für immer aus dem Gebiet unserer souveränen Republik abzögen.
»Wir sind jetzt endgültig frei«, schwärmte er, »kein Fremder auf dem Boden unseres Landes.«
»Sieh her, Iljas Beg«, sagte ich und führte ihn zur Karte, »unsere natürliche Stütze wären Türkei und Persien, doch beide sind jetzt machtlos. Wir hängen im luftleeren Raum, und vom Norden her drängen hundertsechzig Millionen Russen, die nach unserem Öl dürsten. Solange die Engländer hier sind, traut sich kein Russe, ob rot oder weiß, über die Grenze. Ziehen die Engländer ab, so bleiben zur Verteidigung von Aserbaidschan nur du und ich und die paar Regimenter, die unser kleines Land aufstellen kann.«
»Ach was«, Iljas Beg schüttelte sorglos den Kopf, »wir haben ja unsere Diplomaten, um mit den Russen Freundschaftsverträge abzuschließen. Die Armee hat anderes zu tun. Hier«, er zeigte auf die Südgrenze des Landes, »wir müssen zur armenischen Grenze. Drüben sind Aufstände. General Mechmandar, der Kriegsminister, hat bereits den Befehl gegeben.«
Es war aussichtslos, ihn zu überzeugen, daß die Diplomatie erst dann einen Sinn hat, wenn sie vom Militär richtig gestützt wird.
Die englischen Regimenter zogen ab, die Straßen waren festlich beflaggt, unsere Truppen marschierten zur armenischen Grenze, und bei Jalama, an der russich-aserbaidschanischen Grenzstation, blieben eine Grenzpatrouille und einige Beamte. Im Ministerium gingen wir an die Ausarbeitung von Verträgen sowohl mit den weißen wie mit den roten Russen, und mein Vater fuhr nach Persien zurück. Nino und ich begleiteten ihn zum Pier. Er blickte uns traurig an und fragte nicht, ob wir ihm folgen wollten.
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