»So müßte es sein«, sagte Iljas hart, und plötzlich fühlte ich, daß er recht hatte, daß alles in uns diesem neuen Staate dienen müsse, der aus der kargen, sonnendurchglühten Erde Aserbaidschans emporwachsen sollte.
Ich ging heim, und als Nino erfuhr, daß ich nichts gegen Parkettböden und Ölbilder an der Wand hätte, da lachte sie vergnügt, und ihre Augen blitzten auf, wie einst im Walde, bei der Quelle von Pechachpur.
In dieser Zeit ritt ich oft in die Wüste hinaus. Ich sah die Sonne blutüberströmt im Westen untergehen und vergrub mich für Stunden in den weichen Sand. Die türkischen Truppen zogen an mir vorbei. Die Offiziere aber hatten plötzlich verstörte und gespannte Gesichter. Der Lärm unseres Staates hatte für uns das ferne Donnern der Kanonen des Weltkrieges übertönt. Irgendwo, weit, weit weg, wichen bulgarische Regimenter vor dem Ansturm des Feindes.
»Durchbruch. Die Front kann nicht mehr hergestellt werden«, sagten die Türken und tranken keinen Sekt mehr.
Spärliche Nachrichten kamen und wirkten wie Blitzschläge. Im fernen Hafen von Mudros bestieg ein gebückter Mann den britischen Panzerkreuzer »Agamemnon«. Der gebückte Mann war Hussein Reuf Bey, Marineminister des Hohen Ottomanischen Reiches, Bevollmächtigter des Kalifen zum Abschluß des Waffenstillstandes. Er beugte sich über einen Tisch, setzte seinen Namen unter ein Stück Papier, und die Augen des Paschas, der in unserer Stadt herrschte, füllten sich mit Tränen.
Noch einmal ertönte in den Straßen Bakus das Lied vom Reiche Turan, doch diesmal klang es wie ein Trauergesang. In Glacehandschuhen, stramm im Sattel sitzend, ritt der Pascha die Front ab. Die türkischen Gesichter waren starr. Die Fahne des heiligen Hauses Osman wurde eingerollt, die Trommeln wirbelten, und der Pascha führte die Hand im Glacehandschuh an die Stirn. Die Kolonnen zogen aus der Stadt und hinterließen das traumhafte Bild der Moscheen von Stambul, der luftigen Paläste am Bosporus und des hagern Mannes, der Kalif war und den Mantel des Propheten auf seinen Schultern trug.
Ich stand an der Strandpromenade, als sich wenige Tage später hinter der Insel Nargin die ersten Schiffe mit englischen Besatzungstruppen zeigten. Der General hatte blaue Augen, einen kurzen Schnurrbart und breite, starke Hände. Neuseeländer, Kanadier und Australier fluteten in die Stadt. Der Union Jack flatterte neben der Fahne unseres Landes, und Feth Ali Khan rief mich an und bat mich, ich möge in sein Ministerium kommen.
Ich besuchte ihn, und er saß im tiefen Lehnsessel, den feurigen Blick auf mich gerichtet.
»Ali Khan, warum sind Sie noch nicht im Staatsdienst?«
Ich wußte es selbst nicht. Ich sah die dicken Mappen auf seinem Schreibtisch und empfand Gewissensbisse.
»Ich gehöre ganz der Heimat, Feth Ali Khan, verfügen Sie über mich.«
»Wie ich höre, haben Sie eine affenartige Begabung für fremde Sprachen. Wie schnell können Sie Englisch lernen?«
Ich lächelte verwirrt.
»Feth Ali, ich brauche kein Englisch zu lernen. Ich kann es schon lange.«
Er schwieg, den großen Kopf an den Sesselrücken gelehnt.
»Wie geht es Nino?« fragte er plötzlich, und ich wunderte mich, daß unser Premierminister, alle Gesetze der Sittsamkeit außer acht lassend, sich nach meiner Frau erkundigte.
»Danke, Exzellenz, meiner Frau geht es gut.«
»Kann sie auch Englisch?«
»Ja.«
Er schwieg und zupfte an seinem breiten Schnurrbart.
»Feth Ali Khan«, sagte ich ruhig, »ich weiß, was Sie wollen. Mein Haus ist in einer Woche fertig. In Ninos Schrank hängen Dutzende von Abendkleidern. Wir sprechen Englisch, und die Sektrechnung bezahle ich selbst.«
Unter seinem Schnurrbart zuckte ein flüchtiges Lächeln.
»Ich bitte um Verzeihung, Ali Khan«, seine Augen wurden weich, »ich wollte Sie nicht beleidigen. Wir brauchen Menschen wie Sie. Unser Land ist arm an Leuten, die europäische Frauen haben, einen alten Namen führen, Englisch sprechen und ein Haus besitzen. Ich zum Beispiel habe nie Geld gehabt, um Englisch zu lernen, geschweige denn, ein Haus zu besitzen oder eine europäische Frau.«
Er schien müde und ergriff die Feder.
»Von heute ab sind Sie Attache im Dezernat für Westeuropa. Melden Sie sich beim Außenminister Assadullah. Er wird Ihnen Ihre Arbeit erklären. Und… und… aber werden Sie nicht gleich böse… kann Ihr Haus schon in fünf Tagen fertig sein? Ich schäme mich selbst, eine solche Bitte an Sie richten zu müssen.«
»Jawohl, Exzellenz«, sagte ich fest und spürte dabei ein Gefühl in mir aufsteigen, als hätte ich soeben einen alten, treuen und geliebten Freund böswillig verleugnet und verlassen.
Ich ging nach Hause. Ninos Finger waren mit Lehm und Farbe bedeckt. Sie stand auf der Leiter und hämmerte an einem Nagel herum, der ein Ölgemälde tragen sollte. Sie wäre sehr verwundert gewesen, wenn ich ihr gesagt hätte, daß sie damit dem Vaterlande einen Dienst erwies. Ich sagte es nicht, sondern küßte ihre schmutzigen Finger und genehmigte einen Eisschrank, geeignet zur Aufbewahrung ausländischer Weine.
»Haben Sie eine Tante?« — »Nein, ich habe keine Tante, aber mein Diener hat sich das rechte Bein gebrochen?«
»Lieben Sie das Reisen?« — »Ja, ich liebe das Reisen, aber ich pflege abends nur Obst zu essen.«
Die Übungssätze der Grammatik waren von boshaftester Torheit. Nino klappte das Buch zu.
»Ich glaube, wir können genug Englisch, um den Kampf zu bestehen, aber hast du schon einmal Whisky versucht?«
»Nino«, rief ich entsetzt, »du sprichst wie der Verfasser der Grammatik.«
»Leichtverständliche Verblödung, Ali Khan, hervorgerufen durch mißverstandenen Dienst am Vaterlande. Wer kommt heute abend?«
Ihre Stimme klang gespielt gleichgültig.
Ich zählte die Namen der englischen Beamten und Offiziere auf, die unser Haus heute beehren sollten. Nino blickte mit stillem Stolz vor sich hin. Sie wußte wohl: kein Minister von Aserbaidschan und kein General besaß, was ihr Mann besaß — eine gepflegte Frau mit westlichen Manieren, englischen Sprachkenntnissen und fürstlichen Eltern. Sie zupfte an ihrem Abendkleid und blickte prüfend in den Spiegel.
»Ich habe den Whisky versucht«, sagte sie düster, »er schmeckt bitter und außerordentlich widerwärtig. Deshalb wohl mischt man ihn mit Sodawasser.«
Ich legte meine Hand um ihre Schulter, und ihre Augen blickten mich dankbar an.
»Wir führen ein seltsames Leben, Ali Khan. Einmal sperrst du mich in den Harem ein, und dann wieder diene ich als Zeuge des kulturellen Fortschritts unseres Landes.«
Wir gingen hinunter zum Empfangsraum. Diener mit vorher wohleinstudierten Mienen drückten sich an den Wänden herum und von den Wänden herab hingen Landschaften und Tierbilder. Weiche Klubsessel standen in den Ecken, und Blumen bedeckten die Tische. Nino vergrub ihr Gesicht in weiche Rosenblätter.
»Weißt du noch, Ali Khan? Einst diente ich dir, indem ich Wasser aus dem Tal zum Aul trug.«
»Welcher Dienst gefällt dir mehr?«
Ninos Augen wurden verträumt, und sie antwortete nicht. An der Tür klingelte es, und ihre Lippen zuckten aufgeregt. Es waren aber nur die fürstlichen Eltern. Und Iljas Beg in voller Gala. Er ging prüfend durch die Säle und nickte begeistert.
»Ich sollte auch heiraten, Ali Khan«, sagte er gewichtig, »hat Nino Kusinen?«
Wir standen an der Tür, Nino und ich, und drückten kräftige, englische Hände. Die Offiziere waren hochgewachsen und hatten rötliche Gesichter. Die Damen trugen Handschuhe, hatten blaue Augen und lächelten gnädig und neugierig. Vielleicht erwarteten sie, von Eunuchen bewirtet und von Bauchtänzerinnen unterhalten zu werden. Statt dessen erschienen wohlerzogene Diener, die Speisen wurden von links serviert, und an den Wänden hingen grüne Wiesen und Rennpferde. Ninos Atem stockte, als ein junger Leutnant sich ein volles Glas Whisky einschenken ließ und es leerte, ohne das dargebotene Sodawasser zu beachten. Fetzen von Gesprächen schwebten durch den Raum und waren von der gleichen boshaften Torheit wie die Sprüche der Grammatik.
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