»Du mußt ein sehr frommer Mann sein. Bete nächstens auch für mich. Denn ich selbst habe keine Zeit und muß arbeiten. Mein Name ist Sorhab Jussuf.«
Tränen flossen über Ninos Gesicht. Sie saß auf dem Diwan, hielt die Hände hilflos gefaltet und weinte, ohne ihr Gesicht zu verdecken. Ihre Mundwinkel waren nach unten gezogen, der Mund geöffnet, und zwischen Wange und Nase standen tiefe Furchen. Sie schluchzte auf, und ihr kleiner Körper bebte. Sie sprach kein Wort. Helle Tränen tropften von ihren Wimpern, fielen auf die Wangen und zerflossen auf dem wehrlosen Gesicht. Ich stand vor ihr, vom Strom ihres Leides ergriffen. Sie bewegte sich nicht, sie wischte ihre Tränen nicht ab, ihre Lippen zitterten wie Herbstblätter im Wind. Ich nahm ihre Hände. Sie waren kalt, leblos und fremd. Ich küßte ihre nassen Augen, und sie sah mich an, verständnislos und abwesend.
»Nino«, rief ich, »Nino, was hast du?«
Sie hob die Hand zum Mund, wie um ihn zu verschließen. Als sie sie wieder sinken ließ, zeichneten sich die Spuren ihrer Zähne deutlich auf den Handrücken.
»Ich hasse dich, Ali Khan«, ihre Stimme klang tief erschreckt.
»Nino, du bist krank!«
»Nein, ich hasse dich.«
Sie zog die Unterlippe zwischen ihre Zähne und hatte die Augen eines kranken und verletzten Kindes. Sie blickte mit Entsetzen auf mein zerfetztes Gewand und meine entblößten, striemengeröteten Schultern.
»Was hast du, Nino?«
»Ich hasse dich.«
Sie kroch in die Ecke des Diwans, zog die Beine hoch und legte ihr Kinn auf die spitzen Knie. Der Strom ihrer Tränen war mit einem Male versiegt. Sie sah mich an, mit traurigen, stillen und fremden Augen.
»Was hab ich getan, Nino?«
»Du hast mir deine Seele gezeigt, Ali Khan.« Sie sprach tonlos, leise und wie im Traum. »Ich war bei meinen Eltern. Wir tranken Tee, und der holländische Konsul lud uns zu sich ein. Sein Haus liegt am Kanonenplatz. Er wollte uns das barbarischste Fest des Orients zeigen. Wir standen am Fenster, und der Strom der Fanatiker zog an uns vorbei. Ich hörte das Tamburin, sah die wilden Gesichter und mir war übel. ›Flagellantenorgie‹, sagte der Konsul und schloß das Fenster, denn von der Straße her roch es nach Schweiß und Schmutz. Plötzlich hörten wir wilde Schreie. Wir blickten hinaus und sahen einen zerfetzten Derwisch, der sich unter die Hufe eines Pferdes warf. Und dann, dann streckte der Konsul die Hand aus und sagte verwundert: ›Ist das nicht…?‹ Er beendete den Satz nicht. Ich blickte in die Richtung seines Fingers und sah einen Eingeborenen, in zerrissenem Gewand, der inmitten der Wahnsinnigen sich die Brust schlug und mit einer Kette seinen Rücken geißelte. Der Eingeborene warst du, Ali Khan! Ich schämte mich bis in die Zehenspitzen, deine Frau zu sein, die Frau eines fanatischen Wilden. Ich verfolgte jede deiner Bewegungen und fühlte die mitleidsvollen Blicke des Konsuls. Ich glaube, daß wir dann Tee tranken oder speisten. Ich weiß nicht mehr. Ich hielt mich mit Mühe aufrecht, denn ich sah plötzlich den Abgrund, der uns trennt. Ali Khan, der Jüngling Hussein hat unser Glück zerstört. Ich sehe dich wild, unter abergläubischen Wilden, und ich werde dich nie wieder anders sehen können.«
Sie verstummte. Und saß da, gebrochen und leidend, weil ich beim Unsichtbaren die Heimat und den Frieden hatte finden wollen.
»Was soll nun geschehen, Nino?«
»Ich weiß nicht. Wir können nicht mehr glücklich sein. Ich will weg von hier — irgendwohin, wo ich dir wieder in die Augen blicken kann, ohne die Wahnsinnigen vom Kanonenplatz zu sehen. Laß mich weg, Ali Khan.«
»Wohin, Nino?«
»Ach, ich weiß es nicht«, ihre Finger berührten meinen wunden Rücken, »warum hast du es nur getan?«
»Deinetwegen, Nino, doch du wirst es nicht verstehen.«
»Nein«, sagte sie trostlos. »Ich will weg. Ich bin müde, Ali Khan. Asien ist abscheulich.«
»Liebst du mich?«
»Ja«, sagte sie verzweifelt und ließ ihre Hände in den Schoß fallen. Ich nahm sie in die Arme und trug sie ins Schlafzimmer. Ich entkleidete sie, und sie sprach wirre Worte voll fiebriger Angst.
»Nino«, sagte ich, »noch ein paar Wochen, und wir fahren heim nach Baku.«
Sie nickte müde und schloß die Augen. Schlaftrunken nahm sie meine Hand und hielt sie an ihre Rippen gepreßt. So saß ich lange und fühlte das Klopfen ihres Herzens in meiner Handfläche. Dann entkleidete ich mich und legte mich zu ihr. Ihr Körper war warm, und sie lag wie ein Kind auf der linken Seite, die Knie hochgezogen, den Kopf unter die Decke gesteckt.
Sie erwachte früh, sprang über mich hinweg und lief ins Nebenzimmer. Sie wusch sich lange, plätscherte mit dem Wasser und ließ mich nicht hinein… Dann trat sie heraus und mied meine Blicke. In der Hand trug sie ein Schälchen mit Salbe. Schuldbewußt rieb sie mir den Rücken ein.
»Du hättest mich verprügeln sollen, Ali Khan«, sagte sie artig.
»Ich konnte nicht, ich habe den ganzen Tag mich selbst geprügelt, und meine Kraft war zu Ende.«
Sie legte die Salbe weg, und der Eunuch brachte Tee. Sie trank ihn hastig und blickte verlegen in den Garten. Plötzlich sah sie mir fest in die Augen und sagte:
»Es hat keinen Zweck, Ali Khan. Ich hasse dich und werde dich hassen, solange wir in Persien bleiben. Ich kann es nicht ändern.«
Wir erhoben uns, gingen in den Garten und saßen schweigend am Springbrunnen. Der Pfau stolzierte an uns vorbei, und die Kutsche meines Vaters fuhr lärmend über den Hof des Männerhauses. Plötzlich bog Nino den Kopf zur Seite und sagte schüchtern:
»Ich kann auch mit einem verhaßten Mann würfeln.«
Ich holte das Nardybrett, und wir würfelten trübsinnig und verwirrt… Dann legten wir uns flach auf den Boden, beugten uns über das Bassin und betrachteten unsere Spiegelbilder. Nino steckte ihre Hand in das klare Wasser und unsere Gesichter verzerrten sich in den kleinen Wellen.
»Sei nicht traurig, Ali Khan. Ich hasse nicht dich. Ich hasse das fremde Land und die fremden Menschen. Es wird vergehen, sobald wir zu Hause sind und sobald…«
Sie legte ihr Gesicht auf die Wasserfläche, verharrte so eine Weile, hob dann den Kopf und Tropfen rannen von ihrer Wange und ihrem Kinn herab.
»Es wird doch ein Knabe sein — aber noch sind es sieben Monate bis dahin«, schloß sie dann und sah etwas stolz und überlegen drein.
Ich trocknete ihr Gesicht und küßte die kühlen Wangen. Und sie lächelte.
Unser Schicksal hing jetzt von den Regimentern ab, die über die sonnendurchglühte Ebene Aserbaidschans marschierten, zu der alten Stadt Baku, die von Bohrtürmen umlagert und vom Feinde besetzt war.
In der Ferne ertönte wiederum die Trommel des heiligen Hussein. Ich ergriff Ninos Hand, führte sie rasch ins Haus und schloß die Fenster. Ich holte das Grammophon und die stärksten Nadeln. Dann legte ich eine Platte auf, und eine tiefe Baßstimme brüllte ohrenbetäubend die Arie vom Gold aus Gounods »Faust«. Es war die lauteste Platte, die es geben konnte, und während Nino sich ängstlich an mich klammerte, übertönte der gewaltige Baß des Mephisto die dumpfen Schläge der Trommel und den uralten Ruf:
»Schah-sse… Wah-sse.«
An den ersten Tagen des persischen Herbstes besetzte die Enver-Armee Baku. Die Nachricht lief durch Basare, Teestuben und Ministerien. Die letzten Verteidiger der Stadt, ausgehungert und von den Ihren abgesprengt, landeten in den Häfen Persiens und Turkestans. Sie erzählten von der roten Fahne mit dem weißen Halbmond, die siegreich über der alten Zitadelle flatterte. Arslan Aga veröffentlichte in Teheraner Zeitungen phantastische Schilderungen vom Einzug der Türken, und Onkel Assad es Saltaneh verbot die Zeitungen, denn er haßte die Türken und glaubte, den Engländern damit einen Gefallen zu tun. Mein Vater fuhr zum Premierminister, und dieser erlaubte nach einigem Zögern die Wiederaufnahme der Schiffsverbindung zwischen Baku und Persien. Wir reisten nach Enseli, und der Dampfer »Nassreddin« nahm die Schar der Vertriebenen auf, die in die befreite Heimat zurückkehrten.
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