Ich saß und schrieb mit der geschlitzten, persischen Bambusfeder. Ich ordnete die losen Notizen, die ich noch in der Schule begonnen hatte, und die Vergangenheit erstand vor mir. Bis Seyd Mustafa ins Zimmer trat und sein pockennarbiges Gesicht an meine Schulter drückte.
»Seyd«, sagte ich, »mein Leben ist in Unordnung geraten. Der Weg zur Front ist abgeschnitten, Nino lacht nicht mehr, und ich vergieße Tinte anstatt Blut. Was soll ich tun, Seyd Mustafa?«
Mein Freund sah mich ruhig und durchdringend an. Er trug schwarze Gewänder, und sein Gesicht war abgemagert. Sein hagerer Körper schien unter der Last eines Geheimnisses gebückt. Er setzte sich hin und sprach:
»Mit den Händen kannst du nichts erreichen, Ali Khan. Aber ein Mensch besitzt mehr als bloß Hände. Siehe mein Gewand, und du wirst wissen, was ich meine. In der Welt des Unsichtbaren liegt die Macht über die Menschen. Streife das Geheimnis, und du wirst der Macht teilhaftig.«
»Ich verstehe dich nicht, Seyd. Meine Seele schmerzt, und ich suche einen Weg aus der Finsternis.«
»Du bist dem Irdischen zugewandt, Ali Khan, und vergißt den Unsichtbaren, der das Irdische lenkt. Im Jahre 680 der Flucht fiel bei Kerbela, von Feinden des Glaubens verfolgt, Hussein, der Enkel des Propheten. Er war der Erlöser und der Geheimnisreiche. Mit seinem Blute zeichnete der Allmächtige die sinkende und aufgehende Sonne. Zwölf Imame herrschten über die Gemeinschaft der Schia, über uns Schiiten: der erste war Hussein, und der letzte ist der Imam des letzten Tages, der Unsichtbare, der heute noch insgeheim das Volk der Schia führt. Überall in seinem Wirken sichtbar und dennoch ungreifbar ist der verborgene Imam. Ich sehe ihn im Aufgang der Sonne, im Wunder der Saat, im Sturm des Meeres. Ich höre seine Stimme im Knattern des Maschinengewehrs, im Seufzer einer Frau und im Wehen des Windes. Und der Unsichtbare gebietet: Trauer sei das Los der Schia, Trauer um das Blut Husseins, das im Sande der Wüste bei Kerbela vergossen wird. Ein Monat des Jahres ist der Trauer geweiht. Der Monat Moharrem. Wer ein Leid hat, weine im Monat der Trauer. Am zehnten Tage des Moharrem erfüllt sich das Los der Schia; denn dies ist der Todestag des Märtyrers… Das Leid, das der Jüngling Hussein auf sich nahm, dieses Leid muß auf die Schultern der Frommen gelegt werden. Wer einen Teil dieses Leides auf sich nimmt, wird eines Teiles der Gnade teilhaftig. Deshalb kasteit sich der Fromme im Monat Moharrem, und im Schmerz der Selbstkasteiung offenbart sich dem Verwirrten der Weg der Gnade und die Lust der Erlösung. Dieses ist das Geheimnis des Moharrem.«
»Seyd«, sagte ich müde und gereizt, »ich fragte dich, wie ich die Freude in mein Haus zurückrufen soll, denn dumpfe Angst erfüllt mich, und du erzählst mir Weisheiten aus der Unterrichtsstunde für Religion. Soll ich durch die Moscheen laufen und mit eisernen Ketten meinen Rücken schlagen? Ich bin fromm und erfülle die Gebote der Lehre. Ich glaube an das Geheimnis des Unsichtbaren, aber ich glaube nicht, daß der Weg zu meinem Glück über das Mysterium des heiligen Hussein führt.«
»Ich glaube es, Ali Khan. Du fragtest mich nach dem Weg, und ich nenne ihn dir. Ich weiß keinen andern. Iljas Beg vergießt sein Blut an der Front bei Gandscha. Du kannst nicht nach Gandscha. Deshalb weihe dein Blut dem Unsichtbaren, der es am zehnten Tage des Moharrem von dir fordert. Sage nicht, daß das heilige Opfer sinnlos ist — nichts ist sinnlos in der Welt des Leides. Kämpfe im Moharrem für die Heimat, wie Iljas bei Gandscha.«
Ich schwieg. In den Hof fuhr die Kutsche mit den geschliffenen Glasfenstern und Ninos Gesicht wurde hinter den Scheiben undeutlich sichtbar. Die Tür zum Haremsgarten öffnete sich, und Seyd Mustafa hatte es plötzlich sehr eilig.
»Komm morgen zu mir in die Moschee Sepahselar. Dann können wir weitersprechen.«
Wir lagen auf dem Diwan und hatten das mit Perlmutter verzierte Nardybrett mit den Elfenbeinsteinen zwischen uns. Ich hatte Nino das persische Würfelspiel gelehrt, und seitdem würfelten wir um Tomane, Ohrringe, Küsse und Namen unserer künftigen Kinder. Nino verspielte, zahlte ihre Schulden und würfelte weiter. Ihre Augen leuchteten vor Spannung, und ihre Finger berührten die Elfenbeinsteine, als wären sie kostbare Kleinodien.
»Du wirst mich zugrunde richten, Ali«, sagte Nino seufzend, während sie mir acht Silbertomane zuschob, die ich eben gewonnen hatte.
Sie rückte das Brett weg, legte ihren Kopf auf meine Knie, blickte nachdenklich zur Decke und träumte. Es war ein schöner Tag; denn Nino war von dem Gefühl befriedigter Rache erfüllt. Und das war so gekommen:
Schon am frühen Morgen hallte das Haus wider von Ächzen und Stöhnen. Ihr Feind, Jahja Kuli, kam mit geschwollener Wange und verzerrtem Gesicht.
»Zahnschmerzen«, sagte er mit einem Gesicht, als wollte er Selbstmord begehen. In Ninos Augen blitzten Triumph und Lust. Sie führte ihn zum Fenster, blickte in seinen Mund und runzelte die Stirn. Dann schüttelte sie besorgt den Kopf. Sie nahm einen starken Bindfaden und umwickelte damit den hohlen Zahn Jahja Kulis. Das andere Ende des Fadens befestigte sie an der Klinke einer offenen Tür.
»So«, sagte sie, rannte gegen die Tür und schlug sie mit aller Wucht zu. Ein markerschütternder Schrei — der Eunuch stürzte entsetzt zu Boden und starrte dem Zahn nach, der in elegantem Bogen der Türklinke nachflog.
»Sag ihm, Ali Khan, das kommt davon, daß man die Zähne mit dem Zeigefinger der rechten Hand putzt.«
Ich übersetzte wortgetreu, und Jahja Kuli hob den Zahn vom Boden. Ninos Rachsucht war aber bei weitem noch nicht gestillt.
»Sag ihm, Ali Khan, daß er noch lange nicht gesund ist. Er muß sich zu Bett legen und sechs Stunden lang heiße Packungen auf die Wange legen. Und mindestens eine Woche lang darf er nichts Süßes essen.«
Jahja Kuli nickte und ging — befreit und erschüttert zugleich.
»Schäm dich, Nino«, sagte ich, »einem armen Menschen die letzte Freude zu nehmen.«
»Geschieht ihm recht«, sagte Nino hartherzig und holte das Nardybrett. Da sie das Spiel verlor, war die Gerechtigkeit einigermaßen wiederhergestellt.
Jetzt blickte sie zur Decke, und ihre Finger streichelten mein Kinn.
»Wann wird Baku erobert, Ali?«
»Wahrscheinlich in zwei Wochen.«
»Vierzehn Tage«, seufzte sie, »ich sehne mich nach Baku und nach dem Einzug der Türken, weißt du, es ist alles so anders geworden. Während du dich hier ganz wohl fühlst, werde ich täglich entehrt.«
»Wieso entehrt?«
»Alle Welt behandelt mich wie einen sehr teuren und zerbrechlichen Gegenstand. Ich weiß nicht, wie teuer ich bin, aber ich bin weder zerbrechlich noch ein Gegenstand. Denke an Daghestan! Da war es ganz anders. Nein, es gefällt mir hier nicht. Wenn Baku nicht bald befreit wird, müssen wir woandershin ziehen. Ich weiß nichts von den Dichtern, auf die dieses Land so stolz ist, aber ich weiß, daß zum Feste Husseins Menschen ihre Brust zerkratzen, mit Dolchen auf ihren Schädel einschlagen und mit Eisenketten ihren Rücken geißeln. Heute verließen viele Europäer die Stadt, um bei diesem Schauspiel nicht anwesend zu sein. Das Ganze widert mich an. Ich fühle mich hier einer Willkür ausgesetzt, die mich jederzeit plötzlich überfallen kann.«
Ihr zartes Gesicht blickte zu mir empor. Ihre Augen waren tief und dunkel wie nie zuvor. Die Pupillen waren geweitet, und der Blick war weich und nach innen gerichtet. Ninos Augen allein verrieten ihre Schwangerschaft.
»Fürchtest du dich, Nino?«
»Wovor?« Ihre Stimme klang aufrichtig erstaunt.
»Es gibt Frauen, die sich davor fürchten.«
»Nein«, sagte Nino ernst, »ich fürchte mich nicht. Ich fürchte mich vor Mäusen, Krokodilen, Prüfungen und Eunuchen. Aber nicht davor. Sonst müßte ich mich auch vor dem Schnupfen im Winter fürchten.«
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