»Ich werde noch ein bisschen lesen«, sagte er zu Ingrid, die wusste, wie ihm zumute war.
Der Raum war durch die Heizung gut temperiert, doch Ingrid hatte zusätzlich Feuer im Kamin gemacht. Er setzte sich direkt davor, wie er es gerne tat, und schenkte sich ein Glas kühlen, leichten Weißwein ein; für eine Weile schloss er die Augen, bevor er in dem Buch blätterte, das er vor einigen Tagen angefangen hatte zu lesen.Vielleicht würde es ihn ja auch heute von seinen Erinnerungen ablenken, die so hartnäckig waren. Diesmal war er selbst schuld daran gewesen, denn er hätte die Follia von Corelli nicht spielen sollen, dieses Stück, das er all die Jahre nicht hatte interpretieren wollen und das ihn zwangsläufig ins Lager zurückkehren ließ. Jetzt, in der Ruhe seines Hauses, nach so langer in relativem Frieden verbrachter Zeit, war er erstmals dazu in der Lage, sich ohne Schrecken an die Vergangenheit zu erinnern, jetzt, wo sein Haar bereits weiß war.
Was mochte wohl aus seinen Leidensgenossen geworden sein? Er hatte nie über jene Zeit sprechen wollen, und bei vielen Kameraden erinnerte er sich nicht einmal mehr daran, wie sie aussahen, aber Daniel, diesen außergewöhnlichen Geigenbauer, sah er noch genau vor sich, als ob der Schein des Kaminfeuers seine Gesichtszüge erhellte. Diese wachen Augen, die der Hunger nicht völlig zum Erlöschen hatte bringen können und die alle Regungen seines Geistes widergespiegelt hatten: den Mut, die Furcht, den Zorn und die Verzweiflung, als er erfahren musste, dass sie ihn als Einsatz gegen eine Kiste französischen Wein ausgespielt hatten. Auch seine schlanken, ein wenig rissigen, so geschickten Hände sah er deutlich vor sich und die unauslöschliche Tätowierung, die auch er selbst trug. Die Hände, die ihm zum Abschied nachgewinkt hatten, als er, vom Schicksal begünstigt, zusammen mit einem alten Häftling und acht kränklichen Frauen das Lager verlassen konnte: Das war der Anteil gewesen, den das Dreiflüsselager zum Handel beigetragen hatte; ja, der Graf Bernadotte hatte sie zusammen mit vielen weiteren Häftlingen aus anderen Todeslagern gegen Lastwagen eingetauscht. Er war davon überzeugt, dass er dank des Wehrmachtoffiziers, der ihm den Geldschein zugesteckt hatte, auf der glückseligen Liste gestanden hatte. Mein Gott, was war das für eine Reise gewesen … Hart, unendlich lang, über verwüstete Felder, mit glühender Hoffnung im Herzen. Unbändige Freude und gleichzeitig ein bedrückendes Schuldgefühl hatten ihn eingenommen, als er an die Kameraden zurückdachte, vor allem an seine Triopartner und mehr noch an Daniel, der weiterhin den Schweinen ausgeliefert war.
Heute konnte er sich nicht mehr auf die Lektüre konzentrieren. Er machte leise ein wenig Musik an, doch auch sie vermochte ihn nicht zu zerstreuen. Morgen würde er auf andere Gedanken kommen, denn am Abend wollten sie in ihr Wochenendhaus fahren, das am Ufer eines von Birken gesäumten Sees lag, über den Enten und Schwäne glitten. Niemals mehr wollte er Schweden, das Land, das ihnen Zuflucht gewährt hatte, verlassen. Niemals. Seine Gefangenschaft war nicht ohne Spuren geblieben: Er hatte eine ununterdrückbare, irrationale Angst vor Reisen und davor, aus diesem Land fortzugehen. Aus diesem Grund hatte er auch bald auf Konzerttourneen verzichtet, sie bescherten ihm Alpträume, er war höchstens für den einen oder anderen Auftritt in die Nachbarländer gereist, nach Dänemark oder Norwegen, die Heimat von Sibelius, wo er sich sicher fühlte. Sobald er seine Papiere in Ordnung gebracht und die schwedische Staatsbürgerschaft erlangt hatte, hatte er einen Lehrstuhl am Konservatorium angenommen. Seine seltenen Konzerte fanden höchste Anerkennung, und bald kamen Geiger aus aller Welt, um die Kunst des Fingersatzes und der klassischen Kadenz von ihm zu erlernen.
Nein, sagte er sich jetzt, er würde die Follia nie wieder vortragen. Er hatte sie erstmals und mit ganzer Seele vor dem gehassten Tyrannen auf der Geige gespielt, die sein Freund unter größter Anstrengung gebaut hatte. Es kam ihm so vor, als ob seitdem noch nicht viel Zeit vergangen war. Sie hatten beide den Gedanken nicht ertragen können, das wunderschöne Instrument dem Kommandanten zu überlassen, sie hatten sogar Pläne geschmiedet, es auszutauschen. Am Tag nach der Aufführung hatte Bronislaw nicht gewusst, wie er Daniel beruhigen, seine Zweifel noch einmal zerstreuen sollte, denn man hatte ihnen nur gesagt, dass sie »bis auf weiteres« an ihrem Arbeitsplatz bleiben würden. Kein einziges Wort war von den verhassten Lippen über das künftige Schicksal des Geigenbauers zu hören gewesen. Hatte er die Geige rechtzeitig abgeliefert? Sie glaubten es zwar, aber sie wussten es nicht, und diese Ungewissheit war für Daniel schwer zu ertragen gewesen.
Einige Tage nach der Einweihung des Instruments erzählte ihm der Geigenbauer eines Abends, dass Sauckel ihn am Tag zuvor gegen Mittag aus der Tischlerei hatte holen lassen; er schilderte in allen Einzelheiten, wie man ihn zum Haus des Kommandanten gebracht und ihm dieser – das war in der Tat ungewöhnlich – zur Geige gratuliert hatte. Wie er, Daniel, vor ihm strammstand, während sein Herz heftig schlug und er darauf wartete, endlich von der Ungewissheit erlöst zu werden und den Händen Raschers entkommen zu sein. Da hörte er den Nachsatz:
»Ich habe beschlossen, dich zu belohnen, obwohl du nur deine Pflicht erfüllt hast.«
Mit Mühe brachte Daniel ein »Vielen Dank« über die Lippen. Doch was dann folgte, entsprach nicht im Geringsten seiner Erwartung; der Kommandant wandte sich an seinen Adjutanten und sagte:
»Bringt ihn in die Küche und gebt ihm etwas zu essen. Schnell, die Fabrik ruft.«
Die Enttäuschung hatte ihm beinahe den Hunger genommen, aber einmal in der Küche angelangt, verschlang er dennoch das Fleisch und Gemüse, das ihm die Köchin vorsetzte. Den ganzen Nachmittag – so berichtete er Bronislaw – war er bei der Arbeit den Gedanken nicht losgeworden, das Schwein würde ein Spiel mit ihm treiben, in der Annahme, dass der Musiker und er über die Wette Bescheid wussten und nun auf deren Ausgang warteten. Der Geiger sollte sogleich alle weiteren Einzelheiten erfahren.
Am Tag nach der warmen Mahlzeit holte ein Kapo Daniel und einen noch jüngeren Tischler aus der Werkstatt:
»Mitkommen!«
Sie legten ihre Werkzeuge nieder und hatten Mühe, ihm zu folgen, da er im Gegensatz zu ihnen richtige Schuhe trug und sich deshalb ohne Beeinträchtigung bewegte.
»Schnell, schnell!« Er wandte den Kopf und drängte sie zur Eile.
»Marsch, ihr Faulpelze! Wir werden im Haus des Sturmbannführers erwartet, ein Lieferwagen ist abzuladen.«
Er bereut es schon, mich beglückwünscht zu haben, dachte der Geigenbauer, und nun soll ich die Mahlzeit abgelten, indem er mich Kisten abladen lässt und mir so zeigt, dass ich durch den Bau der Geige keinerlei Privilegien habe. Nicht zum ersten Mal unterbrachen ihn derartige Befehle bei der Arbeit. Er wunderte sich allerdings, dass Sauckel mit dem Hund an seiner Seite auf dem Treppenabsatz vor dem schon zum Teil bepflanzten Wintergarten stand und das Treiben überwachte. Doch bald verstand er, warum, es waren nämlich neue Pflanzen eingetroffen. Also gingen sie zum Lieferwagen, und Daniel lud, den Anweisungen folgend, drei große Rosenstöcke ab, einen nach dem anderen. Ihr Gewicht ließ ihn in die Knie gehen; er war es nicht gewöhnt, solche Lasten zu tragen, und es strengte ihn sehr an. Als er zum dritten Mal mit einem schweren Blumentopf die Treppe hinaufstieg, mit diesen Holzschuhen an den Füßen, schwankte er, und beim Hinuntergehen wurde ihm so schwindlig, dass er stehen bleiben musste, um Luft zu holen. Der Adjutant schlug ihn mit dem Knüppel – wenigstens nicht sehr fest.
»Gut so, Markus.« Das Monster lächelte zustimmend: »Lass sie bloß nicht faul werden, die Arbeit ist noch nicht getan.«
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