»Er bekleidet einen höheren Dienstgrad als Rascher«, fuhr der Musiker fort, »das ist mir aufgefallen, als sie voreinander salutierten, und der Kommandant verabscheut jegliche Einmischung in seinen Autoritätsbereich.« Es gab aber auch noch einen weiteren Faktor, der Daniel zu überzeugen vermochte: Der Arzt verstand nicht das Geringste von Geigen, Sauckel hingegen schon. Und dieser war gewiss schlau genug, keine unglaubwürdige Frist zu setzen, um sich den Erhalt der Kiste Burgunderwein zu sichern. Davon konnte man ausgehen.
»Und du? Kannst du es dir eigentlich einrichten zu üben?«
»Nicht wirklich, weil ich den ganzen Tag in der Küche arbeite: Schau dir bloß meine Hände an! Warm haben sie es dort wenigstens, aber der Gedanke an den Sommer macht mir jetzt schon Angst.«
Dennoch nutzten er und seine zwei Partner stets die knappe Zeit zum Üben, die ihnen nach der abendlichen Essensausgabe blieb, bevor man sie in ihre schäbige Unterkunft schaffte. Es war nicht viel Zeit, »aber wir geben uns größte Mühe, und so bleiben wenigstens die Finger beweglich.« Und er fügte abschließend hinzu: »Heute haben wir gerade mal eine halbe Stunde, ich muss deswegen jetzt auch los.« Er ging schweren Herzens fort, und Daniel sah ihm nach, wie er sich mit langsamen, schwankenden Schritten entfernte; er blickte ihm gerührt und dankbar hinterher, bis er in der Baracke verschwunden war. Wie sehr war er von ihm verstanden und getröstet worden!
Ihnen war ausreichend Zeit geblieben, sich zu unterhalten und die Angelegenheit ein ums andere Mal durchzugehen, denn seit Frühlingsbeginn waren die Abende länger, und man schickte sie erst um neun in die Baracken. Den Geigenbauer hatte das Gespräch beruhigt, und so schlief er nun mit der Hoffnung und der Entschlossenheit ein, die Geige fertigzubauen. Deshalb erschrak er auch nicht, als ihn zwei oder drei Tage später ein ihm unbekannter Kapo aus der Werkstatt holte. Er vermutete, man würde ihn zum Haus des Kommandanten bringen. Während er die Werkzeuge niederlegte, fasste er den Entschluss, Sauckel zu fragen, wie viel Zeit man ihm zugestand, um das Instrument fertigzustellen. Ich werde die Frage so vorbringen, dachte er, dass er keinen Verdacht schöpfen kann, so als ginge ich davon aus, er benötige die Geige für ein Konzert.
Sie hatten allerdings etwas anderes mit ihm im Sinn: »Schnell, ab in die Schneiderei!«, befahl man ihm, und da er so verblüfft war, dass er sich nicht von der Stelle rührte, wurden die Worte »schnell, schnell!« von einem heftigen Stoß begleitet.
Er folgte dem Kapo und fühlte, wie Verzweiflung in ihm aufstieg. Wenn sie ihm die Zeit verkürzten, die er für die Geige brauchte, würde er es nicht schaffen, sie rechtzeitig zu vollenden. Was hatten sie bloß mit ihm vor, was sollte er in der Schneiderei? Er konnte weder bügeln noch gut genug nähen: Sie konnten ihn lediglich dazu einteilen, die Kleidungsstücke der Toten zu waschen, die immer wieder verwendet wurden.
Seit vielen Monaten hatte er keine kräftige und gutaussehende Frau mehr zu Gesicht bekommen, ihn faszinierte daher der Körper der Aufseherin, die mit einem Gummiknüppel in der Hand, der vollkommen überflüssig war, die blassen, abgemagerten Frauen und Mädchen überwachte, während diese einen Berg bereits sauberer Wäsche sortierten und bügelten. Mit einem Blick stellte er fest, dass auch Kinderkleidung darunter war – von den wenigen Kindern, die vor der Selektion im kleinen Lager überlebt hatten. Auf einem anderen Stapel befand sich zerschlissene Wäsche, die nicht mehr zu flicken war und sicherlich zur Papierherstellung dienen würde. Alles wurde verwertet, das wusste Daniel. Den »Gesunden« hatten sie nicht in den Mund geschaut, die Kranken jedoch – das hatte er mit eigenen Augen gesehen – wurden von einem Zahnarzt untersucht, auf dessen Tisch Pinsel und Farbe standen. Nach dem Tag des »Reinemachens« war ihnen klar, dass der Pinselstrich mit Ölfarbe auf dem nackten Körper diejenigen kennzeichnete, die Goldzähne hatten.
Er war aber nicht zum Wäschewaschen abkommandiert worden. Zusammen mit drei weiteren Häftlingen brachte man ihn zu einem Schneider, einem geschickten kleinen Mann, der Maß nahm, sie recht gut erhaltene Kleidung anprobieren ließ und zum Aufseher sagte, sie sollten in ein paar Tagen wiederkommen, um sie nochmals zu probieren und dann mitzunehmen. Diese Vorgehensweise war ihnen unverständlich, obwohl sie neue Kleidung bitter nötig hatten. Ihre war so alt und fadenscheinig, dass sie die Kälte des letzten Winters kaum abzuhalten vermocht hatte – Lungenentzündungen hatten unter den Häftlingen gewütet. Warum man ihnen jetzt anständige Kleidung zuteilen wollte, war ihnen ein Rätsel. Sie sprachen darüber, als sie die »Schneiderei« verließen, konnten sich allerdings keinen Reim darauf machen. Einer von ihnen stellte die Vermutung an, man würde sie vielleicht in ein kälteres Lager im Norden deportieren, er hatte bemerkt, dass die Jacken dick und gut gefüttert waren, aber diese Theorie schien ihnen allen absurd. Wann hatten sich die Schweine jemals um ihre Gesundheit Gedanken gemacht?
Daniel zerbrach sich nicht weiter den Kopf und kehrte mit dem anderen Tischler, der ebenfalls in die Schneiderbaracke geschickt worden war, an seine Arbeit zurück.
Am nächsten Tag erschien ein Untersturmführer, der als besonders grausam verschrien war, in Begleitung eines SS-Mädchens, und es wurde ihnen befohlen, sich Schuhe und die neuen Kleider anzuziehen. Die beiden waren frühmorgens überraschend in die Werkstatt gekommen – es war noch nicht einmal richtig hell -, hatten hier und da etwas zurechtgerückt und befahlen nun den neu eingekleideten Häftlingen zu gehorchen, ohne Fragen zu stellen. Eine der Anordnungen war allerdings sehr schwierig zu befolgen: Sie sollten, kaum waren sie zurechtgemacht und ihre Gesichter geschminkt, so tun, als würden sie in Freiheit arbeiten: »Jetzt lächeln«, sagte der SS-Mann, »sonst seht ihr die Kartoffeln von unten wachsen.«
Das war eine gängige Ausdrucksweise, um auf die Toten anzuspielen. Zweifellos brauchten sie Fotos für ihre Propaganda, schließlich hatten sie schon einige Male Filme gedreht, die die Sachlage verfälschten – frei nach dem Motto: Die Lagerinsassen arbeiten glücklich und zufrieden oder Jedem die Arbeit, die ihm Spaß macht. Daniel fühlte Zorn in sich aufsteigen, und er spürte, wie sein Gesicht unter der Schminke rot anlief. Der SS-Mann grinste und schwang den Knüppel. Damit dieser nicht auf sie niedersauste, rangen sich die beiden Häftlinge ein Lächeln ab, soweit sich ihre geöffneten Lippen und ihre vor Schrecken weit aufgerissenen Augen als solches bezeichnen ließen. Die junge Frau porträtierte sie in verschiedensten Posen, und sie entgingen den Schlägen um den Preis der Selbsterniedrigung – welch doppelte Bitterkeit!
»Ausziehen«, hieß es dann, und die Fotografin und der Mann lachten, während sie auf die abgemagerten Körper deuteten.
Schweigend streiften sie sich die alten Kleider wieder über. Sie waren der Strafe entgangen, doch hatten sie zur Belohnung nicht einmal ein wärmendes Kleidungsstück behalten dürfen. In den alten Fetzen und mit den Holzschuhen an den Füßen kehrte Daniel an seinen Arbeitsplatz zurück. Es fiel ihm schwer, seine Hände zitterten noch vor Aufregung; die erlittene Demütigung, das erzwungene Lächeln, das er den Feinden dargeboten hatte, quälten ihn. Er wusste nicht, wie lange er noch in der Lage sein würde, unter diesen Bedingungen zu arbeiten, obwohl er jung war und sein Lebenswille noch nicht verwelkt. Zu seinem großen Erstaunen reichte ihm der Aufseher den Rest seines Biers. Also waren die beiden auch ihm verhasst gewesen und die Komödie mit den Fotos ihm ebenso nahegegangen. Daniel trank gierig und bedankte sich; dann presste er seine Hände zwei- oder dreimal kräftig zusammen und bekam schließlich das Zittern in den Griff.
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