Die Vorarbeiter der Fabrik in der abgelegenen Zweigstelle der mächtigen IG Farben kündigten ihnen per Lautsprecher eine Viertelstunde Pause an, man würde sie gruppenweise aufrufen, auch eine Geldprämie sollten sie erhalten, mit der sie in der Kantine etwas zu essen kaufen konnten. Ein Raunen erfüllte die Halle, wie die Wellen eines stark aufgewühlten Meeres, ein einziges dumpfes Stöhnen, das nur mit Mühe von den Schreien der Aufseher erstickt werden konnte: »Ruhe!«
Schließlich übertönten die Maschinen die menschlichen Stimmen; Daniels junger Kamerad weinte über seiner Arbeit. Als sie an der Reihe waren, in die Kantine zu gehen, gab es nicht mehr viel Auswahl. Der Junge und der Geigenbauer, der über seinem Hunger alles vergaß, aßen jeder ein Würstchen und tranken ein Glas Milch. Ihre Kehlen waren so ausgedörrt, dass sie die Milch geräuschvoll hinunterstürzten und sich danach die Lippen leckten, gierig wie ein Säugling an der Mutterbrust. Und als Daniel den letzten Tropfen getrunken hatte, dachte er, dass er jedes Gramm an zusätzlicher Nahrung nutzen musste, wenn er genügend Kraft haben wollte, um die Geige fertigzubauen.
EINMAL, GOTT, WURDE ICH
IN DER NACHT
NICHT HEIMGESUCHT UND
MUSSTE NICHT JÄHLINGS
EINEN MIR UNBEKANNTEN WEG
BESCHREITEN.
Josep Carner, Der Prophet
Der Geiger begann allein das langsame, rhythmische Thema der Melodie; der Bogen strich sicher über die Saiten, und bald stimmte das Cello begleitend ein. Er hatte lange darüber nachgedacht, welches Stück er auswählen sollte, und schließlich hatte er sich für die Variationen über das Follia-Thema von Arcangelo Corelli in der Version von Hubert Léonard entschieden, die er auswendig kannte; allerdings wurde die zweite Stimme statt vom Klavier oder Cembalo vom Cello übernommen. Ihr Zusammenspiel war harmonisch, und es war genau richtig gewesen, ein Werk zu wählen, das vor allem den strahlenden Klang der Geige zur Geltung brachte, aber keine riskanten virtuosen Stellen aufwies. Die Musik entfaltete sich, der kleine Part mit Doppelgriffen und Trillern glitt flüssig und heiter dahin, bis das Thema wieder mit solcher Schönheit einsetzte, dass die Zuhörer gebannt und schweigend lauschten.
Die Begleitung verstummte: Ein Violinsolo bildete den Abschluss, und die Geige klang weich und voll. Der Musiker hatte die Augen geschlossen, ließ die letzten Töne ausschwingen. Nun – dachte er unvermittelt – würde der Applaus einsetzen, der sein ständiger Begleiter gewesen war, seit er mit zwölf sein erstes Konzert gegeben hatte. Inzwischen war er sechsundzwanzig.
Er öffnete die Augen, kam zu sich, und sogleich war ihm wieder bewusst, wo er sich befand; dennoch befremdete ihn der spärliche Beifall. Der Kommandant klatschte ein paarmal in die Hände, und die beiden Musiker verbeugten sich vor dem Schwein .
»Ihr habt gut gespielt« – Bronislaw atmete befreit auf, als er das hörte -, »und die Geige klingt tadellos.«
Seine Erleichterung war umso größer, weil er wusste, dass das Instrument nicht genügend lang hatte trocknen können. Der Kommandant blickte ironisch lächelnd und zufrieden zu Rascher und sagte:
»Ihr beide und der Geigenbauer« – diesmal sagte er nicht: der kleine Tischler – »werdet bis auf weiteres nicht in den Steinbruch geschickt.« Dann drehte er sich zu dem halben Dutzend Gästen um:
»Meine Herren, die Musiker haben sich wirklich ein Trinkgeld verdient.«
Daraufhin wandte er sich an seinen Adjutanten, der ihm eine Münze reichte. Jetzt wird er sie mir geben, dachte Bronislaw, aber das geschah nicht. Der Cellist hatte seinen Instrumentenkoffer offen gelassen, und der Kommandant warf das Geldstück hinein, wie bei einem Straßenmusikanten; die Gäste, unter ihnen ein Mädchen in SS-Uniform, folgten seinem Beispiel, und der Cellist bückte sich hastig, um die Münzen mit der verhassten Prägung einzusammeln. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er schon an das Essen dachte, das er dafür vielleicht bekommen würde. Bronislaw jedoch würde sich heute nicht bücken, wenn sie ihn nicht dazu zwangen, nicht jetzt, nachdem er mit seiner ganzen Seele gespielt hatte, nachdem er musiziert hatte wie der leibhaftige Corelli selbst, um Daniels Leben zu verteidigen; mit vor Wut verschleierten Augen dachte er, während er das wunderschöne Instrument an sich drückte: Ich werde mich nicht vor ihnen bücken, für einige Augenblicke bin ich ein Prinz.
»Was machst du da? Her mit der Geige!« Er hatte sich geradezu an das Instrument geklammert! Widerwillig, mit glühenden Wangen und mit brennender Wut in seinem Inneren legte er die geliebte Geige und den Bogen in die Hände des Schweins , der sie den anderen zeigte und sich dabei brüstete, als hätte er sie selbst gebaut. Bronislaw hatte beobachtet, dass einer der Anwesenden keine Münze in den Cellokoffer geworfen hatte und ihn wohlwollend ansah; das Gesicht kam ihm bekannt vor, und er bemerkte, dass der Mann eine Wehrmachtsund keine SS-Uniform trug. Wahrscheinlich war er ein bekannter Musiker, den man kürzlich einberufen hatte. Er ging auf den Geiger zu und drückte ihm unverhohlen eine Banknote in die Hand.
»Jetzt verschwindet hier! Raus!«, schrie Sauckel plötzlich und wandte sich ab. Offensichtlich wollte er sich nun endlich die Speisen schmecken lassen, die man unter den glänzenden Deckeln auf dem mit Blumen geschmückten und mit weißen Servietten gedeckten Tisch erahnen konnte, als ob zwischen dem Rot der Weinflasche und den Gläsern für den gekühlten Champagner, der wohl später serviert werden würde, das Lager und der Krieg überhaupt nicht existierten. Sie verließen den Saal, sein Kamerad mit seinem Instrument, er hingegen der Geige beraubt. Draußen mussten sie wie jedes Mal die Konzertkleidung wieder ausziehen, so war es Vorschrift.
Bronislaw sagte zum Cellisten: »Wir teilen das Geld unter uns dreien auf«, und er faltete den Schein auseinander, um zu sehen, wie viel er wert war. Darin eingewickelt befand sich ein winziges, zusammengefaltetes Stück Papier, das er vor seinem Kameraden und vor allen anderen geheim hielt, indem er es aufaß. Denn darauf standen die unglaublichen Worte, leuchtend, als wären sie mit Goldfarbe eingraviert: Ich hole dich hier raus.
Der Geiger setzte den Bogen noch zweimal entschlossen und doch weich auf die Saiten. Er hatte dieses Stück seit langer Zeit nicht mehr gespielt, aber der Vortrag war von Anfang an gelungen, die Melodie schwebte ergreifend durch den Raum, die Intonation war perfekt, wie er selbst als Erster bemerkte.
Während der letzten Takte hatte er die Augen geschlossen, er musste die Partitur nicht sehen, um das Stück mit Präzision zu Ende spielen zu können. Er hielt einen Augenblick inne und ließ dann das Thema ausklingen. Seine Gedanken schweiften von der Musik ab, und er fragte sich, ob der Kommandant wohl zufrieden sein würde, ob er Daniels Leben und das seine hatte retten können. Stürmischer Applaus befreite ihn von der bitteren Vision. Mein Gott, was war mit ihm los? Ein Klavier und nicht das Cello begleitete ihn, er und sein Partner verbeugten sich auf der Bühne, eine Blumenpracht umgab sie. Nimmer endender Applaus ertönte, das Publikum erhob sich begeistert, der Pianist deutete ihm, weiter nach vorne zu gehen, um sich nochmals zu verneigen. Ein hübsches Mädchen überreichte beiden eine flammendrote Rose, bedankte sich charmant, und Bronislaw erhielt außerdem einen Stamm Orchideen.
Alles erschien wie ein Traum, obwohl er sich vermeintlich sicher bewegte, lächelte und sich so verhielt, wie man es von einem Virtuosen erwartet. Er signierte einige Konzertprogramme für Musikliebhaber, die ihn darum baten, und später nahm er am Smörgås teil , zu dem er geladen worden war, bevor er endlich in sein stilles Haus zurückkehren konnte. Er wollte aber nicht gleich zu Bett gehen, denn er war sich sicher, wieder von dem alten Alptraum heimgesucht zu werden.
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