Er hatte den Eindruck, soeben erst eingeschlafen zu sein, als die Sirene allen Schrecken zum Trotz einen neuen Tag ankündigte. Der Appell an diesem Morgen fiel kürzer aus als sonst, und einige zählten ihre Toten. Die Sonne löste schamlos die Nebelschwaden auf, der Wind schien die Namen der Ermordeten ins Nichts fortzutragen.
Aber nicht alle hatten sie vergessen; die unerbittliche, niemals stillstehende Organisation, die sie inhaftierte und dezimierte, hatte sie bereits verbucht, und die zweckmäßigen Befehle waren schon bei der Lagerleitung angelangt. Wie sie feststellten, gab es kein Stück Brot zu viel, und auch der sogenannte Kaffee war um kein bisschen stärker. Die Listen waren rasch ausgebessert worden, und nun wartete man auf die unglücklichen Neuzugänge, um in den Pritschenreihen, in den Werkstätten und beim Appell die Lücken wieder zu füllen. Die Anzahl der Neuankömmlinge, mit der sie rechneten, würde jedoch nicht eintreffen: Im Lager wusste man bereits, dass viele den Weg der Rebellion gewählt hatten, den Tod einer Deportation vorzogen und im Warschauer Ghetto Widerstand leisteten.
Freund ging leise fluchend in die Reparaturwerkstatt, wo er gewiss mehr denn je zu tun haben würde. Wie jeden Morgen galt es, die Arbeit mit einem Loch im Magen und nun auch noch mit einem schrecklich bitteren Nachgeschmack zu beginnen. Der Geigenbauer betrat niedergeschlagen die Werkstatt. Der älteste Kamerad, ein Tischler, der seit Tagen gehustet hatte, würde für immer fehlen. Weder der Anblick »seiner« Werkzeuge noch die bereits vollendeten Teile des Instruments konnten ihn von der Beklemmung befreien, die ihm die Brust zuschnürte. Die Arme schienen ihm schlaffer, seine Hände langsamer zu sein. Ich muss die Erinnerung an gestern abschütteln, dachte er, ich habe keine Zeit, an jene zu denken, die schon nicht mehr unter uns weilen, wenn ich mich nicht zu ihnen unter die Birken gesellen will. Nach und nach beruhigten ihn die gewohnten Handgriffe und der Duft der Hölzer ein wenig, und die drückenden Bande der Erinnerung schienen ihn nicht länger zu ersticken. Die dreißig Kniebeugen vom Vortag, eine an sich nicht außergewöhnliche Anstrengung, hatten an seinem geschwächten Körper Spuren hinterlassen; die Knie schmerzten noch, die Hände allerdings fühlten sich spürbar glatter an. Die plötzliche Kälte der letzten Tage und starker Wind aus Russland hatten die Haut ganz rissig gemacht. Durch die Creme war sie jedoch wieder geschmeidiger geworden, und das war äußerst wichtig für ihn. Er lebte nun mit einer sehr begründeten Hoffnung: Sie würden ihn sicher am Leben lassen, bis er die Geige fertiggebaut hatte. Mittlerweile wusste er, dass der Lagerkommandant Instrumente sammelte. Er würde ihn also nicht in den Steinbruch schicken, solange diese im Lager gefertigte Rarität nicht vollendet war, immerhin würde sie seiner Eitelkeit schmeicheln. Dennoch durfte er die Arbeit nicht in die Länge ziehen, sonst lief er Gefahr, wegen zu langsamen Vorwärtskommens oder gar Sabotage ausgepeitscht zu werden. Selbst der Mechaniker, auf den sie ungern verzichteten, hatte eine ganze Woche im Arrest verbracht, weil ihm ein Werkzeug kaputt gegangen war!
Er arbeitete daher in seinem gewohnten Tempo, versuchte den gleichen Rhythmus wie zu glücklichen Zeiten in seiner Werkstatt in Krakau zu finden. Wie durch ein Wunder hatte er bereits den Hals der Geige fertiggestellt, der wirklich gelungen war, und auch die Decke, an der er heute mit äußerster Sorgfalt den Bassbalken anbringen würde. Bis zum Mittag sollte er ihn angeleimt haben, da am Sonntagnachmittag die einzige Ruhepause der ganzen Woche anstand und er noch ein paar Kleidungsstücke waschen wollte. Er prüfte die Maserung des Fichtenholzstabes und setzte ihn derart auf, dass das Muster genau mit jenem der Decke übereinstimmte. Dann schob er ihn in seine richtige Position, damit er so lag, wie die tiefen Saiten später verlaufen sollten. Um sich zu vergewissern, dass sich der Bassbalken exakt der Deckenwölbung anpasste, prüfte er das Resultat im Gegenlicht. Nun wusste er genau, wie er den Fichtenholzstab anleimen und an welcher Stelle er ihn fester andrücken musste. Die mit Filz überzogenen Holzklemmen zum Einspannen des verleimten Stückes lagen bereit. Als er die fünf Klemmen angebracht hatte, gönnte er sich eine Pause, er musste warten, bis der Leim trocken war; den überschüssigen Klebstoff hatte er bereits weggetupft, und um mit etwas Neuem zu beginnen, war es schon zu spät. Der Aufseher, der in seinen ersten Wochen hier im Lager nicht mit Schlägen gespart hatte, ließ ihn inzwischen weitgehend in Ruhe und beschimpfte ihn nicht mehr. Er schien zufrieden mit diesem Häftling, der schweigend vor sich hin arbeitete, sogar nur selten die Erlaubnis einholte, zur Latrine gehen zu dürfen, keine Probleme machte und sich auch nicht heimlich mit den anderen Tischlern unterhielt. Dennoch war es ratsam, sich keine Blöße zu geben, und damit seine kurze Rast auf dem selbstgebastelten Hocker nicht auffiel, legte er die Hände sacht auf die Geigendecke, als müsste er sie zusammenhalten.
Er wollte sich nicht an die furchtbare Selektion vom Vortag erinnern und lenkte daher seine Gedanken – als wären auch sie fügsame Werkzeuge – zu Regina. Wie oft hatte er das kleine, blauäugige Mädchen in seinen damals noch kräftigen Armen gehalten, sie in die Luft geworfen und wieder aufgefangen, während sie vor Vergnügen quietschte. Es tröstete ihn, sie in Sicherheit zu wissen, obwohl er keinerlei Nachricht erhalten hatte, da jeder Versuch einer Kontaktaufnahme zu gefährlich gewesen wäre. Seine Cousine galt als Arierin und hatte zwei ältere Kinder; alle würden sich um die Kleine kümmern. Er dachte daran, dass der Großvater Bienen züchtete und einen Gemüsegarten bestellte, also würde es ihnen sicher nicht an Essen mangeln. Die tiefen dunklen Ringe, die der Hunger in ihr Gesichtchen gegraben hatte, waren bestimmt schon verschwunden.
Es war gut, nicht an die Toten zu denken, sondern an Regina und auch an Eva, die in Tischs Fabrik Zuflucht gefunden hatte. Es war auch gut, dass ihn seine Arbeit noch zu ermutigen vermochte, obwohl er spürte, wie seine Kräfte mit jedem Tag nachließen. Heute atmete er leichter, war dankbar für das bisschen Sonne, das durch die Fensteröffnung fiel, in die er als Ersatz für die fehlende Glasscheibe transparentes Papier geklebt hatte. Der Aufseher, der einige Meter entfernt von ihm saß, aß, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, eine Handvoll Nüsse, die er aufgetrieben hatte, um die Zeit bis zum Mittagessen zu überbrücken. Er knabberte sie geräuschvoll, so als wollte er ihnen den Mund wässrig machen, und Daniel neidete ihm diese Haselnüsse, gleichzeitig aber war er froh, weil sie alle dadurch ein paar Augenblicke Ruhe hatten.
Er konnte von Glück reden, dass der Tischler, der in nächster Nähe arbeitete, rechtzeitig zu ihm herüberkam und ihn unauffällig weckte. Bis zu diesem Vormittag war ihm das noch nie passiert. In der letzten Nacht hatte er jedoch nach der Rückkehr der Lastwagen kaum geschlafen und war nun aus Erschöpfung neben der Geige eingenickt, den Kopf vornüber auf dem Tisch. Offensichtlich hatte es sonst niemand bemerkt oder zumindest keiner beim Kapo denunziert, so wie es manchmal geschah, um Gutpunkte zu sammeln.
Ich darf auf gar keinen Fall mehr bei der Arbeit einschlafen, schärfte er sich ein. Seit ein paar Tagen wusste er durch Bronislaw, den Geiger, was auf dem Spiel stand. Dieser war, seitdem Daniel ihn vor dem Kommandanten in Schutz genommen hatte, als ob sie nicht beide gleich hilflos und ohnmächtig wären, sein Freund. Glücklicherweise war der Musiker trotz Arrest den Peitschenhieben und dem »Frühjahrsputz« entgangen. Und immer wenn der Kommandant nicht seine Dienste als Geiger im Trio oder im Orchester in Anspruch nahm, arbeitete er jetzt in der Küche. In der Nähe der Feinde nutzte er dann sein feines Gehör, um möglichst viele Gesprächsfetzen aufzuschnappen.
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