An dem Tag, als er die Decke der Geige vorbereitete, um sie nachher abzuschleifen, fiel es ihm schwer, sich auf die viel eintönigere Arbeit in der Fabrik zu konzentrieren; sein Instrument begann ihn zu fesseln, das war ihm bislang noch bei jedem Instrument so ergangen. Aber er durfte nicht geistesabwesend sein, sonst lief er Gefahr, sich zu verletzen, und er musste sich dem vorgegebenen Rhythmus anpassen, nicht schneller, nicht langsamer sein als die anderen seiner Abteilung. Zwar hatte der Kapo, auch ein Häftling aus der Ukraine, nicht den Ruf, besonders grausam zu sein, was allerdings die Arbeitsleistung betraf, so achtete er mit aller Strenge auf die erforderliche Quote.
Ab und zu erschienen das Monster oder ein anderes Mitglied des Führungsstabs auch persönlich, und für gewöhnlich gingen diese Besuche schlecht aus; eines Nachmittags wurde sogar ein angeblicher Saboteur mit dem Tode bestraft. Daniel war überzeugt, dass einer der Mithäftlinge jenen mürrischen Schlosser denunziert hatte. Warum sonst wären sie direkt, ohne zu zögern, auf ihn zugegangen? Das Aufsehen einer öffentlichen Hinrichtung wurde jedoch – vielleicht auch, um den Denunzianten nicht bloßzustellen – vermieden. Der Kommandant hatte den Mann angeschnauzt und einen Befehl zu seinen beiden Begleitern herübergerufen, die den Häftling daraufhin unverzüglich hinauszerrten. Sie sahen ihn nie wieder.
In anderen Fällen, wenn sie ihr Pensum nicht erfüllen konnten, schaffte man sie eine halbe Stunde früher zu ihren Arbeitsstätten, und das Mittagessen wurde gestrichen. Also arbeitete er tüchtig den ganzen Nachmittag, stets darauf bedacht, sich die Hände nicht aufzuschrammen, und er zwang sich dazu, bis zum Abend nicht an seine über alles geliebte Geige zu denken.
Am nächsten Morgen bemerkte er zum ersten Mal – die ganze Zeit über war er so vertieft in seine Arbeit gewesen -, dass die Tage schon länger wurden und es nicht mehr so kalt und dunkel war, wenn sie zum Appell antreten mussten. Inzwischen enthüllte die Helle sogar schon zu Beginn eines neuen Tages die empörenden Zeichen ihrer langen Sklaverei: Er sah die abgezehrten Gesichter in den Reihen, die violetten Schatten unter den Augen, die abgetragene Kleidung mit den aufgenähten Winkeln in den verschiedenen berüchtigten Farben, vor allem die gelben, sah die Spuren der Schläge und die Narben in einigen Gesichtern. Hatte er das Zeitgefühl verloren? Tage wie Jahre und Monate wie Tage, alles verschwamm zu einem einzigen Nebelband.
Außerhalb des Lagers jedoch, außerhalb jener Insel in einem monströsen Archipel, war die Zeit nicht stehengeblieben. Er spürte einen Hauch lauer Luft, eine wohltuende Liebkosung im Reich des Hasses. In seine Gasse von früher, in Krakau, würden bald die Schwalben zurückkehren. Der Frühling, sagte er sich, würde mehr denn je erblühen. Er wird über den Körpern tausender Toter erblühen.
Das war kein tröstlicher Gedanke, aber dennoch nicht zu verleugnen. Er fand den Kaffee bitterer, die Scheibe Brot winziger und kärglicher, als hätte ihr diese Überlegung das Gewicht genommen. Ein paar Minuten lang betrachtete er den Himmel – er hatte es sich schon abgewöhnt, da er stets voller Wolken oder in Nebel gehüllt war – und entdeckte erstmals große blaue Stellen. Plötzlich verspürte er einen heftigen Stockschlag auf dem Rücken, er war im Strom der Arbeiter auf dem Weg zu den verschiedenen Werkstätten einfach stehen geblieben. Ja, dachte er erneut, während er einen Aufschrei unterdrückte, der Frühling naht. Er wird auf der mit unseren Toten gedüngten Erde erblühen.
Noch mit diesem Gedanken beschäftigt und mit schmerzendem Rücken betrat er die Werkstatt; nun nahm er sich zusammen und fing sofort damit an, ein letztes Mal die Kanten der Decke zu glätten. Er roch am Holz, nahm das Modell, das er schon vorbereitet hatte, und begann ganz selbstvergessen und mit der feinfühligen Kunstfertigkeit eines Dichters das Innere der Decke mit dem kleinen Hohleisen abzunehmen. Der Schlag, der Gedanke an den Tod, die Aussicht auf die endlosen Stunden in der Fabrik, alles verschwand, als wäre der Geruch des Holzes ein Wind, der sämtliche schwarzen bedrohlichen Wolken vertreibt.
Der Aufseher frühstückte; er konnte sich also gefahrlos eine kleine Pause gönnen. Danach legte er sich die kleinen Wölbungshobel in den drei verschiedenen Größen bereit, die er brauchen würde, um die richtige Stärke der Decke zu erreichen. Nach reiflicher Überlegung war er zu dem Entschluss gekommen, die Decke in der Mitte bei viereinhalb Millimetern zu belassen. Normalerweise veranschlagte er fünf, doch es war ihm befohlen worden, ein Instrument nach den Maßen einer Stradivari anzufertigen; also würde er die Ränder auf drei Millimeter abschleifen. Unter seinen Arbeitsbedingungen wollte er es nicht riskieren, die Decke noch dünner zu machen. Der Klang würde trotzdem voll sein, ganz nach der alten Schule von Mateusz Dobrucki, der ebenso wie er selbst aus Krakau stammte. Geigen und Bratschen, deren Decken zu dick waren, konnte er nicht ausstehen, denn sie klangen in seinen Ohren dumpf. Das Hohleisen glitt sicher über das Holz, stets gegen den Verlauf der Holzfasern, so wie es ihm sein Vater – Friede sei mit ihm – beigebracht hatte. Kein längerer Span splitterte ab, das durfte ihm auch nicht passieren. Er arbeitete schließlich seit seinem vierzehnten Lebensjahr in diesem Beruf!
Die Tage wurden mit jedem Morgen heller, und an der Arbeit gemessen, die er bereits verrichtet hatte, rechnete er sich aus, dass der Mittag nicht mehr fern war. Er hielt einen Augenblick inne, dann nahm er noch einmal Maß und freute sich über seine Genauigkeit. Er war schon bei sechs Millimetern angelangt. Jetzt musste er mit dem kleineren Hobel beginnen, der ihm die Arbeit sehr erleichtern würde und mit dem er bei der Rohbearbeitung der Wölbung noch nie Probleme gehabt hatte.
Da plötzlich wurde die Tür aufgerissen, er drehte sich jedoch nicht um. Wer auch immer die Inspektoren oder Besucher sein mochten, sie mussten ihn arbeitend antreffen. Um ihn herum gingen die Hobelgeräusche weiter, er roch die Späne, hörte den einen oder anderen Hammerschlag in seiner Nähe.
Ohne es zu wollen, ließ er plötzlich seinen Hobel sinken. Er blickte nicht auf, das war auch gar nicht nötig; denn inmitten der üblichen Geräusche, die ihn in der Werkstatt umgaben, hatte er zwei Stimmen wiedererkannt, die sich durch das Entsetzen, das sie einflößten, unverwechselbar in sein Gehör eingeprägt hatten, so wie ein glühendes Eisen die Haut brandmarkt. Die kräftigere, tiefere Stimme war die Sauckels. Die andere jene Raschers. Herr, lass mich nicht wie versteinert dastehen, lass mich nicht alles verderben.
Es schien ihm, als könnten alle sein Herz schlagen hören, doch er bewahrte einen kühlen Kopf. Noch waren sie nicht bis zu dem etwas abseits gelegenen Winkel der Werkstatt vorgedrungen, in dem er arbeitete. Er legte die Geigendecke vorsichtig auf den Tisch, an dem er die Feinarbeiten ausführte, ging zur Tischlerbank und nahm das Ahornholz zur Hand, das er schon zugeschnitten hatte, um den Hals anzufertigen. Er warf einen anerkennenden Blick auf die schön geflammten, von oben nach unten verlaufenden Maserungen und begann, eine Seite mit dem Hobel zu glätten. Das, so hatte er im Bruchteil einer Sekunde gedacht, beherrsche ich beinahe im Schlaf, also werde ich es auch schaffen, wenn Rascher seinen kalten Blick auf mich richtet. Die gleichmäßige Bewegung des Hobels ließ ihn ruhiger werden; da standen sie schon vor ihm.
»Was macht die Geige?«
Mit Erstaunen bemerkte er, dass die Stimme des Kommandanten ohne Spur von Spott oder Hohn war. Er schien mit der üblichen Neugierde eines Kunden zu fragen. Also antwortete er, ohne zu zaudern:
»Alles in Ordnung, keine Probleme.«
Er sprach und unterbrach dabei seine Arbeit nicht. Schließlich wusste man nie, wie sie reagierten. Manchmal hatten sie ihn geschlagen, weil er nicht strammgestanden hatte, wenn sie ihn ansprachen, ein andermal deshalb, weil er es getan und nicht weitergearbeitet hatte. Doch diesmal wurde er von Schlägen verschont. Während er weiterhobelte, sah er aus dem Augenwinkel, dass sie immer noch vor ihm standen. Neugierig beobachteten sie, wie er den Winkel und das Lineal nahm und die Maße exakt überprüfte. Sie betrachteten offensichtlich zufrieden die nunmehr glatte, schön gemaserte Oberfläche des Holzes. Wann würden sie endlich wieder verschwinden, diese Dreckskerle? Da er flink arbeitete, musste er nun das Modell für den Halsstock zur Hand nehmen und die Form nachzeichnen: den Querschnitt, die Rundung am unteren Ende, all das musste er mit dem Spitzeisen markieren und schließlich die elegante Krümmung der Schnecke skizzieren. Es fiel ihm schwer, diese Arbeit unter dem prüfenden Blick dieser vier Augen auszuführen, die auf seine noch immer sicheren Hände geheftet waren. Ihm fehlte die nötige Ruhe dazu. Endlich hörte er, wie sie sich entfernten, und seinen Körper durchströmte ein Gefühl großer Erleichterung, wie wenn das Fieber einen Kranken verlässt. Als die unerträgliche Spannung von ihm wich, ließ er den Halsstock auf die Bank sinken und wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn.
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