Er hatte sich nach und nach daran gewöhnt, sich kaum über irgendwelche unerwarteten Vorkommnisse zu wundern, denn sie waren fast immer abscheulich. Alles konnte geschehen: dass sie in der Baracke noch enger zusammenrücken mussten, weil für weitere Häftlinge noch ein paar Pritschen hineingezwängt wurden, dass man ihnen wegen angeblich schlechter Arbeitsleistung am Vortag das Mittagessen strich oder dass man ihnen zusätzlich zur Rübensuppe eine rohe Möhre gab, auf Anordnung des neuen Lagerarztes – Rascher war nämlich befördert worden. Dass man sie, meist dienstags oder freitags früh am Morgen, auf dem gleichen Appellplatz, dort, wo Daniel ausgepeitscht worden war, antreten und strammstehen ließ, um steif vor Kälte und Entsetzen der Hinrichtung eines »subversiven Häftlings« beizuwohnen, eines als Kommunisten oder Spion angeklagten Mithäftlings.
Obwohl er sich mittlerweile an all diese permanenten Widersprüchlichkeiten gewöhnt hatte, überraschte es ihn, als er eines Tages den Befehl erhielt, eine Geige zu bauen – so vollkommen wie eine Stradivari, hatte der Untersturmführer betont. Und noch mehr hatte es ihn gewundert, als man ihm eine Menge Werkzeug, Hölzer und weiteres Material zur Verfügung stellte, damit er auswählen konnte, was er davon benötigte. Er vermutete, dass es sich um beschlagnahmtes Gut aus der Werkstatt eines jüdischen Geigenbauers handelte, eines deutschen vielleicht, wahrscheinlich schon tot, ermordet. Aus seiner eigenen Krakauer Werkstatt jedenfalls konnte er kein Stück wiedererkennen.
Es hatte sich, wie man ihm übermittelte, um einen direkten Befehl des Sturmbannführers gehandelt, doch war ihm, als er es unter strenger Einhaltung der Vorschriften gewagt hatte, das Wort an den Adjutanten zu richten, die Erlaubnis verweigert worden, irgendwelche Fragen zu stellen: Nachdem er salutiert und strammgestanden hatte, sagte er Folgendes:
»Nummer 389 bittet respektvoll um Erlaubnis, eine Frage stellen zu dürfen.«
»Abgelehnt.«
Immerhin wurde die harsche Weigerung nicht von Schlägen begleitet. Der ausgestreckte Arm wies nur auf den Eingang zur Tischlerei, und Daniel begab sich unverzüglich dort hinein. Ein Teil der Tischlerei würde ihm nun als Werkstatt zur Verfügung stehen.
Er arbeitete stets schweigend. Aus nächster Nähe wurde er vom ukrainischen Kapo beaufsichtigt. Irgendetwas zu fragen riskierte er nicht, er vermied es sogar, sich selbst weitere Fragen zu stellen oder über seine Arbeit mit den Kameraden zu sprechen, um sich nicht unbeliebt zu machen. Den Kommandanten hatte er in der Werkstatt noch nicht zu Gesicht bekommen. Vielleicht konnte er zu einem späteren Zeitpunkt herausfinden, was genau sie von ihm erwarteten.
In den ersten Tagen war die Arbeit schleppend vorangegangen, weil er zunächst das beschlagnahmte Material, das mit Holzspänen vermischt war, ordnen und aussortieren musste. Und wohl auch, weil er an seine eigenen Hohleisen, Hobel und Raspeln von früher gewöhnt war, die sich der Form seiner Hände angepasst hatten, als wären sie mit ihnen zusammengewachsen. Er dachte an all jene Werkzeuge, die in der Werkstatt im Erdgeschoss seines Hauses so sauber vor sich hingeglänzt hatten. Wo war die Ruhe geblieben, die verlässliche Ordnung seiner Werkstatt, die an der Decke aufgehängten Geigen, die vertraute Umgebung, die Stimme seiner Mutter, die oben bei der Hausarbeit vor sich hinträllerte – die Mutter, die an Tuberkulose und Hunger im Ghetto gestorben war?
Er hatte nicht einmal in Erfahrung bringen können, wie viel Zeit sie ihm zugestanden, um die Geige fertigzustellen, ohne dass er eine Strafe befürchten musste. An den Vormittagen ließen sie ihn wenigstens weitgehend in Ruhe. Der Aufseher schlug ihn nicht mehr, Rascher war nicht zurückgekehrt, eine weitere Internierung in der Zelle war ihm erspart geblieben. Eines Morgens jedoch konnte er einer erneuten Züchtigung nicht entgehen. Sie galt allen in seiner Baracke, da zwei versteckte Äpfel gefunden worden waren. Danach hatte man sie aber wieder an die Arbeit geschickt.Von nun an widmete er sich mit mehr Zuversicht seiner Tätigkeit, und sein Tag schien wie mit der Klinge eines Schwertes in zwei Teile gespalten. Morgens, wenn der Appell ohne wesentlichen »Zwischenfall« vorübergegangen war, wenn die Hunde keinen Häftling wegen einer unschuldigen, für sie verdächtigen Bewegung ins Bein gebissen hatten, wenn es nur die lauten Beschimpfungen hagelte, die an der Tagesordnung waren, fiel es ihm nicht schwer, sich gleich in die Arbeit zu vertiefen und all den Hass und Nebel, der sie umgab, in den hintersten Winkel seines Gehirns zu drängen. Manchmal kam ihm ein Bruchstück einer Melodie oder ein Fragment der alten Gebete in den Sinn, für gewöhnlich verborgen in den unergründlichen Tiefen seiner Erinnerungen, doch die Worte erstarben bald auf seinen Lippen: Jewarechecha Adonai …
Ja, heute Morgen ist es mir gelungen, dachte er, als er sich für die mittägliche Suppe anstellte, trotz der schmerzenden Stiche im Magen beinahe glücklich zu sein – zumindest für die Zeit, in der ich die Decke der Geige vorbereitet habe. Wie bei fast allen Lagerinsassen rief der Hunger zu dieser Stunde Erinnerungen und Phantasien wach, die mit den Mahlzeiten vergangener Zeiten zusammenhingen. Wenn Daniel länger als üblich warten musste, hatte er stets das Bild eines schön gedeckten Tisches mit leckerem, koscheren Essen vor Augen, das seine Mutter so gut zuzubereiten verstand. Oder gar das Nachtmahl an den zwei Osterfeiertagen mit den Verwandten, Onkeln und Cousins, der Korb mit der Terrine Charoset, die bitteren Kräuter, die er jetzt köstlich gefunden hätte, das ungesäuerte Brot, die hartgekochten Eier, das strahlend weiße Seidentuch mit den blauen Streifen, das sie zudeckte … Was hätte er bloß heute dafür gegeben, ein hartes Ei zu essen oder ein wenig Lammfleisch! Er dachte an den Geschmack der Mazze und an die Freude, das versteckte Stück Brot zu entdecken, das dem Finder unter den Kindern eine Belohnung einbrachte. Er wollte nicht an die Lieder denken und auch nicht an die drei Trinksprüche. Er wäre schon mit ein paar Löffeln voll Tscholent zufrieden gewesen, jener aus Reis, Bohnen und Fleisch bestehende Eintopf, der eine ganze Nacht lang im Ofen der Gemeinde köchelte und den er als Junge des Öfteren holen gegangen war …
Unbarmherzig lösten sich diese Bilder angesichts der kargen Suppe auf, die es täglich gab, außer donnerstags, wenn die Kartoffeln seinen Magen etwas mehr füllten. Er wusste: Der Nachmittag würde kommen, und die fünf oder sechs Stunden Arbeit in der Fabrik, mit nichts weiter als einer wässrigen Suppe im Magen, würden ihn wie jeden Abend an den Rand der Erschöpfung, in eine dumpfe Hoffnungslosigkeit treiben; oft hatte er das Gefühl, nicht mehr die nötige Kraft aufbringen zu können, um am nächsten Tag aufzustehen. So glich sein Tag jenen Gesichtern, die einen Unfall erlitten hatten, die eine Seite war beinahe unversehrt und schön, verbrannt und voller Narben die andere.
Er konnte sich jedoch nicht immer den ganzen Vormittag dem Bau der Geige widmen: Manchmal brachten sie ihm auch ein Instrument zur Reparatur, denn die Feinde hatten in jenem Lager, wie in anderen auch, so seltsam es scheinen mochte, ein Orchester zusammengestellt.
Zunächst war es für ihn sehr zeitaufwendig gewesen, sorgfältig alles Material auszuwählen, das er benötigte; man hatte ihm nämlich am ersten Tag ausdrücklich befohlen, die Dinge, die er nicht brauchen würde, auszusortieren. Vermutlich wollen sie den Rest verkaufen, dachte er. So achtete er darauf, dass ihm, sollte er etwas verderben oder für künftige Reparaturen brauchen, genügend Stücke und Hölzer übrig blieben. Er fand einige bereits zugeschnittene, edle Fichten- und Ahornhölzer vor und ein paar Ebenholzwirbel. Er behielt auch zwei Bögen zurück – den einen, um ihn herzurichten, der andere war offensichtlich funkelnagelneu -, ebenso einige umsponnene Saiten und Leisten aus Maulbeerund Ebenholz. Außerdem bewahrte er eine Anzahl schon zurechtgeschnittener Holzstreifen für die Zargen auf und das gesamte Werkzeug, das vorhanden war, man konnte nie zu viel davon haben. Auch drei schon vorgefertigte Stimmstöcke behielt er; besser es blieb einer übrig, sie würden ihm Arbeit ersparen. Das Ordnen der Tiegel mit Leim, Grundierung, Lacken und Granulaten hatte ihm viel Mühe bereitet, doch nun waren sie feinsäuberlich aufgereiht und mit leserlichen Schildern versehen. Er hatte letztlich nur auf wenig Material verzichtet, aber zum Glück machte man ihm daraus keinen Vorwurf. Seiner Einschätzung nach musste all das Zubehör aus der Werkstatt eines hervorragenden Geigenbauers stammen.
Читать дальше