Schüchtern nahm Fermín sie entgegen.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hebe ich sie mir für nachher auf.«
»Natürlich. Da, nimm das Päckchen.«
Fermín steckte das Paket ein. Lächelnd beugte sich der Direktor über dem Schreibtisch vor. Im Zoo gab es eine Schlange, die genauso aussah, dachte Fermín, aber die fraß nur Mäuse.
»Wie geht’s denn mit deinem neuen Zellenkollegen?«
»Salgado? Eine Seele von Mensch.«
»Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, dass dieser Schuft, bevor er eingebuchtet wurde, ein Revolverheld und Killer im Dienst der Kommunisten war.«
Fermín schüttelte den Kopf.
»Mir hat er gesagt, er sei Gewerkschafter.«
Valls lachte leise.
»Im Mai 38 ist er allein ins Haus der Familie Vilajoana im Paseo de la Bonanova eingedrungen und hat alle umgelegt, sogar die fünf Kinder, die vier Dienstmädchen und die sechsundachtzigjährige Großmutter. Weißt du, wer die Vilajoanas waren?«
»Im Moment…«
»Juweliere. Zum Zeitpunkt des Verbrechens befand sich im Haus eine Summe von fünfundzwanzigtausend Peseten in Juwelen und in bar. Weißt du, wo dieses Geld jetzt ist?«
»Das weiß ich nicht.«
»Weder du noch sonst jemand. Der Einzige, der es weiß, ist Genosse Salgado, der beschlossen hatte, es nicht dem Proletariat zukommen zu lassen, sondern es zu verstecken, um nach dem Krieg auf großem Fuß leben zu können. Was er aber nie tun wird, denn wir behalten ihn hier, bis er singt oder bis ihn dein Freund Fumero schließlich in Stückchen zerlegt.«
Fermín nickte und zog seine Schlüsse.
»Ich hatte schon gesehen, dass ihm an der einen Hand zwei Finger fehlen und dass er ein wenig seltsam geht.«
»Eines Tages sagst du ihm, er soll die Hose runterlassen, und dann siehst du, dass ihm unterwegs noch etwas anderes abhandengekommen ist, weil er sich so stur zu gestehen weigert.«
Fermín schluckte.
»Du sollst wissen, dass mich solche Brutalitäten anwidern. Das ist einer der beiden Gründe, derentwegen ich Salgado in deine Zelle habe stecken lassen. Ich glaube, man muss miteinander reden. Darum will ich, dass du für mich rauskriegst, wo er die Beute der Vilajoanas versteckt hat, und auch die aus allen anderen Diebstählen und Verbrechen, die er in den letzten Jahren begangen hat.«
Fermín spürte, wie ihm das Herz auf die Füße hinunterfiel.
»Und der andere Grund?«
»Der andere Grund ist, dass ich bemerkt habe, dass du dich in letzter Zeit sehr mit David Martín angefreundet hast. Das finde ich sehr gut. Die Freundschaft ist ein Wert, der den Menschen veredelt und zur Rehabilitierung der Gefangenen beiträgt. Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, dass Martín Schriftsteller ist.«
»Ich habe so was läuten hören.«
Der Direktor warf ihm einen eiskalten Blick zu, lächelte aber versöhnlich weiter.
»Martín ist kein schlechter Mensch, aber er irrt sich in vielem. Einer seiner Irrtümer ist die naive Vorstellung, er müsse Menschen und unangenehme Geheimnisse schützen.«
»Er ist eben sehr sonderbar und hat solche Eigenheiten.«
»Natürlich. Darum habe ich gedacht, vielleicht wäre es gut, wenn du bei ihm wärst, mit weit offenen Augen und Ohren, und mir erzählen würdest, was er sagt, was er denkt, was er fühlt… Sicherlich hat er dir irgendwas erzählt, was dir aufgefallen ist.«
»Nun, jetzt, da der Herr Direktor es sagt — in letzter Zeit klagt er immer wieder über einen Pickel, der ihm durch die Reibung mit den Unterhosen in der Leiste gewachsen ist.«
Der Direktor seufzte und schüttelte langsam den Kopf, sichtlich müde, für ein unerwünschtes Element so viel Freundlichkeit aufzubringen.
»Hör mir gut zu, du Witzfigur, wir können das im Guten oder im Schlechten regeln. Ich versuche vernünftig zu sein, aber ich brauche nur zu diesem Telefon zu greifen, und dein Freund Fumero ist in einer halben Stunde hier. Man hat mir zugetragen, seit einiger Zeit habe er nebst dem Lötkolben in einem der Kerker im Keller eine Kiste mit Tischlerwerkzeug, mit dem er wahre Wunder vollbringt. Verstehen wir uns?«
Fermín hielt sich die Hände, um das Zittern zu verstecken.
»Bestens. Verzeihen Sie mir, Herr Direktor. Ich habe schon so lange kein Fleisch mehr gegessen, dass mir das Protein in den Kopf gestiegen sein muss. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Der Direktor lächelte wieder und fuhr fort, als wäre nichts geschehen.
»Insbesondere möchte ich erfahren, ob er einmal einen Friedhof der Vergessenen oder Toten Bücher erwähnt hat oder so ähnlich. Denk gut nach, bevor du antwortest. Hat Martín dir einmal etwas von diesem Ort erzählt?«
Fermín schüttelte den Kopf.
»Ich schwöre Eurer Hochwohlgeboren, dass ich weder Señor Martín noch sonst jemanden je im Leben von diesem Ort habe sprechen hören…«
Der Direktor zwinkerte ihm zu.
»Ich glaube dir. Und darum weiß ich, dass du es mir sagen wirst, wenn er ihn erwähnt. Und wenn er ihn nicht erwähnt, wirst du das Thema zur Sprache bringen und herausfinden, wo er sich befindet.«
Fermín nickte mehrmals.
»Und noch was. Wenn Martín dir etwas von einem bestimmten Auftrag erzählt, den er von mir bekommen hat, überzeug ihn, dass es zu seinem Besten ist und vor allem zum Besten einer gewissen Dame, die er sehr schätzt, und ihres Mannes und des Sohnes der beiden, wenn er alles daransetzt, sein Meisterwerk zu schreiben.«
»Sie meinen Señora Isabella?«
»Aha, ich sehe, dass er dir von ihr erzählt hat… Du müsstest sie sehen«, sagte er, während er seine Brille mit dem Taschentuch reinigte. »So jung, mit dieser straffen Haut einer Schülerin… Du weißt nicht, wie oft sie da gesessen hat, wo du jetzt sitzt, und um den armen unglücklichen Martín gefleht hat. Ich werde dir nicht sagen, was sie mir angeboten hat, denn ich bin ein Gentleman, aber unter uns beiden, die Verehrung, die dieses junge Ding Martín entgegenbringt, ist schon fast kitschig. Ich würde wetten, dieser Junge, Daniel, ist nicht von ihrem Mann, sondern von Martín, der zwar einen miserablen literarischen Geschmack hat, aber einen auserlesenen für Flittchen.«
Der Direktor unterbrach sich, als er bemerkte, dass ihn der Gefangene mit einem undurchdringlichen Blick ansah.
»Was glotzt du denn so?«
Er klopfte auf den Tisch, und sogleich ging hinter Fermín die Tür auf. Die beiden Posten packten ihn an den Armen und hoben ihn vom Stuhl auf, so dass seine Füße in der Luft schwebten.
»Denk an das, was ich dir gesagt habe«, bemerkte der Direktor. »In vier Wochen will ich dich wieder auf diesem Stuhl haben. Wenn du Resultate mitbringst, versichere ich dir, dass dein Aufenthalt hier um einiges angenehmer wird. Andernfalls mache ich einen Termin für dich im Keller bei Fumero und seinen Spielsachen aus. Ist das klar?«
»Wie Glas.«
Dann bedeutete er seinen Leuten mit einer überdrüssigen Geste, den Gefangenen abzuführen, und trank seinen Brandy aus, voller Ekel, sich tagtäglich mit diesen ungebildeten, verachtenswerten Menschen abgeben zu müssen.
Barcelona, 1957
»Sie sind ja ganz weiß, Daniel«, murmelte Fermín und riss mich damit aus meiner Trance.
Der Speiseraum von Can Lluís und die Straßen, durch die wir hergekommen waren, gab es nicht mehr. Alles, was ich zu sehen imstande war, war das Büro im Kastell auf dem Montjuïc und das Gesicht dieses Mannes, der von meiner Mutter in Worten und Anspielungen sprach, die mich marterten. Ich spürte, wie sich in mir etwas Kaltes, Schneidendes Bahn brach, eine Wut, wie ich sie noch nie gekannt hatte. Einen Moment lang wünschte ich mir nichts sehnlicher auf der Welt, als diesen elenden Mistkerl vor mir zu haben, um ihm den Hals umzudrehen und von nahem zu verfolgen, wie ihm die Adern in den Augen platzten.
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