An jenem Sonntag warf der Direktor nach seiner Ansprache einen fragenden Blick auf Fermín, gekrönt von einem Lächeln, das ihn die Galle bis zur Zunge hinauf schmecken ließ. Sowie die Posten den Gefangenen erlaubten wegzutreten, schlich sich Fermín an Martín an.
»Eine brillante Rede«, kommentierte dieser.
»Historisch. Jedes Mal, wenn dieser Mann spricht, nimmt das westliche Denken eine kopernikanische Wendung.«
»Sarkasmus passt nicht zu Ihnen, Fermín. Er steht im Widerspruch zu Ihrer natürlichen Sanftheit.«
»Fahren Sie zur Hölle.«
»Ich bin dabei. Zigarette?«
»Ich bin Nichtraucher.«
»Offenbar lässt sich’s so schneller sterben.«
»Also her damit, an mir soll’s nicht liegen.«
Fermín kam nicht über den ersten Zug hinaus. Als er sich die Lunge bis auf die Erinnerung an seine Erstkommunion aus dem Leib hustete, nahm ihm Martín die Zigarette ab und klopfte ihm auf den Rücken.
»Ich verstehe nicht, wie Sie so was schlucken können. Das schmeckt nach angesengtem Hund.«
»Es ist das Beste, was man hier kriegen kann. Sie sollen aus Stummelresten gefertigt sein, die auf den Gängen des Monumental-Gefängnisses zusammengekehrt werden.«
»Mich jedenfalls erinnert das Bukett eher an ein Pissoir.«
»Atmen Sie tief durch, Fermín. Besser so?«
Fermín nickte.
»Wollen Sie mir nun etwas über diesen Friedhof erzählen, damit ich dem Oberschwein einen Köder hinwerfen kann? Es muss ja gar nicht stimmen. Mir ist mit jedem Unsinn gedient, der Ihnen einfällt.«
Lächelnd stieß Martín den stinkenden Rauch zwischen den Zähnen aus.
»Wie geht’s denn Ihrem Zellengenossen Salgado, dem Rächer der Enterbten?«
»Tja, da hat man gedacht, man habe ein gewisses Alter und in diesem Weltenzirkus alles gesehen. Und wo es heute früh schon den Anschein machte, als hätte er den Löffel abgegeben, hör ich, wie er aufsteht und sich zu meiner Schlafstätte schleicht wie ein Vampir.«
»Etwas Vampirhaftes hat er tatsächlich.«
»Jedenfalls tritt er an meinen Schlafplatz und starrt mich an. Ich stelle mich schlafend, Salgado beißt an, und ich sehe, wie er lautlos in eine Ecke der Zelle geht und mit der verbleibenden Hand dort zu stochern beginnt, wo die Medizin das Rektum beziehungsweise den Mastdarm ansiedelt«, fuhr Fermín fort.
»Wie bitte?«
»Sie hören schon recht. Von seiner jüngsten Sitzung mittelalterlicher Verstümmelung genesend, feiert der gute Salgado die erstbeste Gelegenheit, wo er imstande ist, aufzustehen und diesen geduldigen Winkel der menschlichen Anatomie auszukundschaften, den die Natur dem Sonnenlicht entzogen hat. Ungläubig wage ich nicht einmal zu atmen. Es vergeht eine Minute, und es sieht aus, als wollte Salgado mit seinen zwei oder drei verbliebenen Fingern dort den Stein der Weisen oder irgendeine tiefsitzende Hämorrhoide suchen. All das begleitet von einem dumpfen Ächzen, das ich lieber nicht wiedergebe.«
»Ich bin vollkommen baff.«
»Nun, dann setzen Sie sich hin fürs große Finale. Nach einer oder zwei Minuten rektaler Schürfarbeit lässt er einen Seufzer à la heiliger Johannes vom Kreuz fahren, und das Wunder geschieht. Wie er die Finger rauszieht, leuchtet etwas zwischen ihnen, was selbst von meiner Ecke aus kein landläufiger Kot ist.«
»Nämlich was?«
»Ein Schlüssel. Kein Schraubenschlüssel, sondern einer von diesen kleinen Schlüsseln wie von einem Köfferchen oder einem Garderobenschrank.«
»Und dann?«
»Und dann nimmt er den Schlüssel, poliert ihn mit Spucke, ich nehme an, dass er nach wilden Rosen roch, und geht damit zur Wand, wo er, nachdem er sich überzeugt hat, dass ich immer noch schlafe, was ich mit einigen hochvirtuosen Schnarchern wie von einem Bernhardinerwelpen bestätige, den Schlüssel in einer Spalte zwischen den Steinen versteckt, die er anschließend mit Schmutz zukleistert und vielleicht auch mit ein wenig Derivat aus seinem Untergeschoss.«
Martín und Fermín schauten sich schweigend an.
»Denken Sie dasselbe wie ich?«, fragte Fermín.
Martín nickte.
»Wie viel, glauben Sie, hat dieses Levkojenknöspchen wohl im Nest der Habgier versteckt?«, fragte Fermín.
»Genug, um zu glauben, der Verlust von Fingern, Händen, Teilen der Hodensubstanz und weiß Gott noch was sei die entsprechende Geheimhaltung wert«, vermutete Martín.
»Und was soll ich jetzt tun? Denn bevor ich zulasse, dass diese Viper von Herrn Direktor seine Klauen in Salgados Schätze steckt, um sich eine kartonierte Ausgabe seiner Opera Magna zu finanzieren und sich einen Sitz in der Königlichen Sprachakademie zu erkaufen, verschlucke ich diesen Schlüssel oder stecke ihn mir nötigenfalls genauso in die Niederungen meines Intestinaltrakts.«
»Im Augenblick tun Sie gar nichts«, sagte Martín. »Versichern Sie sich, dass der Schlüssel noch dort ist, und warten Sie meine Anweisungen ab. Ich bin dabei, die letzten Details für Ihre Flucht auszuarbeiten.«
»Ich will Sie ja nicht kränken, Señor Martín, und bedanke mich aufs Herzlichste für Ihre Beratung und Ihre moralische Unterstützung, aber diese Geschichte kann mich Kopf und Kragen und das eine oder andere liebe Anhängsel kosten, und angesichts dessen, dass die weitverbreitete Meinung die ist, Sie seien vollkommen bescheuert, beunruhigt mich der Gedanke, mein Leben in Ihre Hände zu geben.«
»Wenn Sie einem Romancier nicht trauen, wem wollen Sie denn dann trauen?«
Fermín sah Martín in der tragbaren Rauchwolke seiner Patchworkzigarette im Burggraben davongehen.
»Gütiger Gott«, murmelte er in den Wind.
Das von Nr. 17 organisierte makabre Wettbüro blieb mehrere Tage geöffnet, in denen Salgado bald von einem Moment auf den anderen den Geist aufzugeben schien, bald aufstand und sich zu den Gitterstäben der Zelle schleppte, wo er aus voller Kehle ein »Ihrgottverdammtenscheißkerlewerdetkeinencentvonmeinemgeldkriegenhurensöhnemistige« und entsprechende Varianten ausstieß, bis ihm die Seele aus dem Leib fiel und er wie leblos zu Boden sackte, so dass ihn Fermín wieder auf die Beine stellen und zur Pritsche zurückschleifen musste.
»Ist’s endlich aus mit dem Kakerlak, Fermín?«, fragte Nr. 17, sobald er ihn hinschlagen hörte.
Fermín gab sich nicht mehr die Mühe, ärztliche Bulletins über seinen Zellenkollegen herauszugeben. Sollte es so weit kommen, würden sie ja den Segeltuchsack abziehen sehen.
»Passen Sie auf, Salgado, wenn Sie sterben wollen, dann sterben Sie endlich, und wenn Sie vorhaben weiterzuleben, dann tun Sie es bitte in aller Stille — Ihre Geiferrezitale hängen mir zum Hals raus«, sagte Fermín, während er ihn mit einem Stück schmutzigen Segeltuchs zudeckte, das er in Bebos Abwesenheit von einem der Wärter bekommen hatte; den hatte er mit einem angeblich wissenschaftlichen Rezept eingeseift, um erblühende Teenager mit Milcheis und Marzipanbaisers zu benebeln und dann aufs Kreuz zu legen.
»Spielen Sie nicht den Barmherzigen, ich riech den Braten und weiß, dass Sie auch nicht anders sind als diese Aasfresserseilschaft, die sogar ihre Unterhosen darauf verwettet, dass ich abkratze.« Salgado schien bereit, seine blendende Laune bis zum letzten Atemzug beizubehalten.
»Ich habe zwar keine Lust, einem Sterbenden in seinen letzten oder bestenfalls vorletzten Zügen zu widersprechen, aber Sie sollen wissen, dass ich in diesem Spiel keinen Real gesetzt habe, und sollte ich eines Tages ebenfalls der Sucht verfallen, dann gewiss nicht mit Wetten auf ein Menschenleben, obwohl Sie von einem Menschen etwa so viel haben wie ich von einem Käfer.«
»Glauben Sie ja nicht, Sie können mich mit dem ganzen Geschwätz hinters Licht führen«, sagte Salgado böse. »Ich weiß haargenau, was Sie und Ihr Seelenfreund Martín mit dieser Monte Christo -Geschichte im Schilde führen.«
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