Im Schutz des Mauervorsprungs machte sich Gacel daran, langsam die restlichen Treppenstufen zu erklimmen. Er schoß nur noch ein einziges Mal auf seine Verfolger, und dieser eine Schuß reichte, um ihnen begreiflich zu machen, daß sie es mit einem vortrefflichen Schützen zu tun hatten. Deshalb riskierten sie es lieber nicht, sich von ihm ein Loch in den Kopf schießen zu lassen.
Als der Targi Sekunden später im Zwielicht der labyrinthischen Kasbah mit ihren zahllosen Gassen und Winkeln verschwand, blickten sich die beiden Polizisten wortlos an, verstauten ihren verwundeten Kollegen auf dem Rücksitz des Autos und machten sich auf den Weg zum nächsten Krankenhaus. Sie wußten beide, daß man ein ganzes Heer gebraucht hätte, um den Flüchtenden in der düsteren Altstadt mit ihren tausend Verstecken zu finden.
Die schwarze Khaltoum hatte also wieder einmal mit einer ihrer Prophezeiungen recht behalten: Er, Gacel, sollte hier sein Leben beenden. Irgendwo in einem schmutzigen Winkel eines ausgebrannten Tempels der roumis, inmitten dieser von Menschen wimmelnden Stadt, sollte er sterben, während das Rauschen des Meeres bis zu ihm drang und er sich weiter, als seine Vorstellungskraft reichte, von der Wüste und ihrer schrankenlosen Einsamkeit entfernt fühlte — von der Wüste, über deren schweigende Ebenen der Wind strich.
So gut es ging verstopfte er die Wunde — ein sauberes Einschuß- und ein ebenso sauberes Ausschußloch. Mit Hilfe der langen Stoffbahn, aus der sein Turban bestand, legte er sich um die Brust einen festen Verband an und wickelte sich anschließend in die Decke. Vor Kälte und Fieber zitternd, kauerte er sich halb sitzend in eine Ecke und verfiel in einen unruhigen Halbschlaf. Seine einzigen Gefährten waren der Schmerz, seine Erinnerungen und der gri-gri des Todes.
Jetzt hätte es ihm nichts mehr genützt, sich in einen »Steinmenschen« zu verwandeln oder das eigene Blut so dickflüssig werden zu lassen, bis es aufhörte, den schmutzigen Turban zu durchtränken. All dies hing von seiner Willenskraft und seinem ungebrochenen Geist ab, aber jener starke Wille war unter dem Aufprall einer großkalibrigen Kugel zerstört worden, und Gacel wurde auch nicht mehr vom selben Geist beseelt, seit er alle Hoffnung aufgegeben hatte, seine Familie wiederzufinden.
Seht nur, wie die Kriege und Kämpfe zu nichts führen, denn die Toten auf der anderen Seite müssen mit Toten in den eigenen Reihen bezahlt werden…
Immer wieder bewahrheiteten sich die Lehren des alten Suilem, und stets aufs neue wiederholte sich die alte Geschichte; denn mochten auch Jahrhunderte vergehen und mochte sich sogar das Aussehen der Welt verändern — die Menschen blieben immer dieselben. Sie waren die Hauptdarsteller in einer Tragödie, die sich schon tausendfach wiederholt hatte, unabhängig von Ort und Zeit.
Da konnten Kriege ausbrechen, weil ein Kamel ein Lamm zu Tode getrampelt hatte, das einer anderen Sippe gehörte. Oder es gab Blutvergießen, weil jemand einen alten Brauch mißachtet hatte. Manchmal lagen zwei ungefähr gleich starke Familien miteinander im Streit, aber es konnte auch, wie im Fall von Gacel, geschehen, daß ein einziger Mann gegen ein ganzes Heer antrat. Das Resultat war immer dasselbe: Der gri-gri des Todes fuhr in ein neues Opfer und drängte es allmählich an den Rand des Abgrundes.
Und hier lag er nun selbst am Rand des Abgrundes, bereit, in die Tiefe zu stürzen.
Vielleicht würden die Entdecker seines Leichnams eines Tages betrübt feststellen, daß ihn die tödliche Kugel in den Rücken getroffen hatte, ihn, Gacel Sayah, der seinen Feinden sonst stets von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte.
In einem wachen Moment fragte er sich, ob er sich wohl durch seine Taten das Paradies verdient hatte oder ob er ganz im Gegenteil dazu verdammt wäre, für alle Zeiten im »Land der Leere« herumzugeistern. Der Gedanke, daß sich seine Seele möglicherweise den Seelen jener Männer anschließen müßte, die einst die Große Karawane begleitet hatten, erfüllte ihn mit tiefer Trauer. Später träumte er, er sei wieder bei der Großen Karawane. Er sah, wie die mumifizierten Kamele und die Skelette in ihrer zerlumpten Kleidung sich in Marsch setzten, durch das stille, flache Land zogen, einen großen Bahnhof durchquerten und in die schlafende Stadt eindrangen.
Gacel schüttelte so heftig den Kopf, daß er mehrmals gegen die Mauer stieß; er war felsenfest davon überzeugt, daß sie ihn holen kamen. Gleich würden sie in das große, leere Kirchenschiff strömen und dort ihr Lager aufschlagen, um so lange geduldig abzuwarten, bis er sich dazu durchgerungen hatte, mit ihnen zu ziehen.
Aber er wollte nicht mit ihnen in die Wüste zurückkehren! Er wollte nicht jahrhundertelang im »Land der Leere« von Tikdabra herumirren! Immer wieder flüsterte er ihnen zu — zum Schreien hatte er keine Kraft mehr — , daß sie ihn alleinlassen und ohne ihn weiterziehen sollten.
Irgendwann fiel er in einen tiefen Schlaf, der drei lange Tage währte.
Als er erwachte, war seine Decke von Schweiß und Blut durchtränkt. Die Wunde blutete jedoch nicht mehr, und der Verband war zu einer harten Hülle geworden, die an seiner Haut klebte. Er versuchte sich zu bewegen, aber der Schmerz war so unerträglich groß, daß er sich stundenlang nicht rühren konnte. Es dauerte lange, bis er sich traute, vorsichtig seine Wunde zu betasten. Später schaffte er es sogar, sich unter großen Mühen bis zu seiner Feldflasche zu schleppen. Er trank gierig und schlief danach gleich wieder ein.
Wie lange er zwischen Leben und Tod schwebte, zwischen wachem Verstand und Ohnmacht, zwischen Traum und Wirklichkeit — das hätte niemand zu sagen vermocht, Gacel am allerwenigsten. Aber es waren Tage, vielleicht sogar Wochen, und als er eines Morgens aufwachte und feststellte, daß er ohne Schmerzen atmen konnte und daß alles wieder so aussah wie früher, da war ihm, als habe er sein halbes Leben zwischen diesen vier Wänden verbracht und als seien schon Jahre, vielleicht sogar Jahrhunderte seit seiner Ankunft in der Stadt vergangen.
Mit gutem Appetit aß er Nüsse, Datteln und Mandeln und trank das restliche Wasser. Danach stand er mühsam auf, stützte sich an der Wand ab und machte vorsichtig ein paar Schritte, doch mußte er sich sofort wieder hinlegen, weil ihm übel wurde. Suchend blickte er sich um, und nachdem er auf sein lautes Rufen keine Antwort erhalten hatte, war er davon überzeugt, daß der gri-gri des Todes nicht mehr neben seinem Lager lauerte.
Vielleicht hat sich die alte Khaltoum doch getäuscht, sagte er sich beglückt. Vielleicht sah sie mich in ihren Visionen verwundet und besiegt. Aber wie hätte sie auch ahnen können, daß ich eines Tages sogar den Tod besiegen würde!
In der darauffolgenden Nacht gelang es Gacel, halb gehend und halb kriechend, einen nahen Brunnen zu erreichen. Er wusch sich darin so gut es ging, und er konnte sich sogar seines Verbandes entledigen, der mit der Haut zusammengewachsen zu sein schien.
Vier Tage später hätte jeder, der sich in die alte, ausgebrannte Kirche hineingewagt hätte, vor Schreck einen Schock erlitten, denn er wäre einer geisterhaften, bis auf die Knochen abgemagerten Gestalt begegnet, die sich taumelnd durch das verödete Kirchenschiff schleppte, gegen die Müdigkeit und den Brechreiz ankämpfte und mit übermenschlicher Willenskraft alles daransetzte, um zu genesen und ins Leben zurückzukehren.
Gacel Sayah wußte, daß ihn jeder Schritt ein wenig weiter vom Tod wegführte und ihn zugleich der geliebten Wüste ein Stückchen näherbrachte.
Er ließ noch eine ganze Woche verstreichen, um wieder zu Kräften zu kommen, doch als ihm das Essen ausging, begriff er, daß der Augenblick gekommen war, seinen Unterschlupf für immer zu verlassen.
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