Eine besonders hohe Welle kam schwungvoll den Strand hinaufgelaufen. Fast hätte sie Gacels Sandalen und den Saum seiner gandura benetzt. Er erschrak so sehr, daß er sogar vergaß, sich mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen.
Dies war das Meer, dem vor undenklichen Zeiten seine Vorfahren, die Garamanten, entstiegen waren; das Meer, das die Küsten Senegals säumte und in das sich der große Strom im Süden am Rand der Wüste ergoß; das Meer, an dessen Ufern das Festland und überhaupt die ganze ihm bekannte Welt aufhörte und an dessen anderer Seite die Franzosen hausten. Nie hätte Gacel es sich träumen lassen, daß er dieses Meer eines Tages selbst kennenlernen würde, denn für ihn war es so fern gewesen wie der fernste Stern der entlegensten Galaxie, ein unüberwindliches Hindernis, mit dem der Schöpfer die Welt der »Söhne des Windes«, dieser ungebundenen Kinder der weiten Wüste, begrenzt hatte.
Gacel wußte, daß er am Ende seines Weges angelangt war. Dieses Meer war der Rand des Universums, und aus seinem wütenden Brüllen sprach Allahs Stimme, der ihm warnend zurief, daß er, Gacel, seine Kräfte überschätzt und weiter gegangen war, als es einem amahar aus dem Flachland des Südens geziemte. Es nahte der Augenblick, wo Allah von Gacel für dessen ungeheuerliche Vermessenheit Rechenschaft fordern würde.
»Du wirst fern von deiner Welt sterben«, hatte ihm die alte Khaltoum vorausgesagt — und er hätte sich nichts vorstellen können, das seiner eigenen Welt fremder war als dieser tosende Wall aus weißem Schaum, der sich immer wieder voller Wut vor seinen Augen auftürmte und hinter dem sich sein Blick in der Finsternis der Nacht verlor.
Gacel setzte sich in den trockenen Sand, außerhalb der Reichweite der Wellen, überließ sich seinen Erinnerungen, gedachte seiner Frau, seiner Kinder und seines verlorenen Paradieses. Reglos saß er da, ließ die Stunden verstreichen und wartete auf die Morgendämmerung. Als sich endlich trübes, diffuses Licht über den Himmel verbreitete, konnte er die grenzenlose Ausdehnung der Wasserfläche bestaunen, die vor ihm lag.
Er hatte geglaubt, daß der Schnee, die Stadt und die Wellen seine Fähigkeit zu staunen für alle Zeiten erschöpft hätten, doch das Schauspiel, das die Morgendämmerung vor seine Augen zauberte, zeigte ihm, daß er sich wieder einmal getäuscht hatte: Dieses bleigraue, metallisch schimmernde, von weißen Schaumkämmen durchzogene bedrohliche Meer schlug ihn in den Bann und versetzte ihn in einen Zustand tiefer Trance, so daß er lange in sich versunken und starr wie eine leblose Statue dasaß.
Als die ersten Sonnenstrahlen das eintönige Grau in leuchtendes Blau und stumpfes Grün verwandelten, wurde das Weiß der schäumenden Brandung noch intensiver und bildete einen scharfen Kontrast zum bedrohlichen Schwarz einer Sturmwolke, die sich von Westen her näherte. Rings um Gacel entstand ein Gewoge von Farben und Formen, wie er es sich mit der ganzen Kraft seiner Phantasie nicht vorzustellen vermocht hätte. Er wäre dort wohl noch stundenlang reglos sitzengeblieben, hätte ihn nicht der ständig anschwellende Verkehrslärm in seinem Rücken aus der Versunkenheit gerissen.
Die Stadt erwachte.
Was in der Nacht nur hohe Mauern, abweisende Fensterfronten und scheinbar wahllos verteilte Grünflächen gewesen waren, wurde nun bei Tageslicht zu einer Farbenorgie: Das grelle Rot der Autobusse kontrastierte mit dem Weiß der Fassaden, das Gelb der Taxis mit dem Grün der Baumwipfel und den schreienden Farben einer buntgewürfelten Vielfalt von Plakaten, die man zu Tausenden an die Wände geklebt hatte.
Und dann die Menschen!
Man hätte glauben können, daß sich an diesem Morgen alle Bewohner des Planeten auf der breiten Uferpromenade ein Stelldichein gaben. Die Leute betraten oder verließen die hohen Gebäude, sie wichen sich aus und stießen auch manchmal zusammen, und ihr Kommen und Gehen war wie ein absurder Tanz. Ab und zu blieben sie alle am Rand eines Gehweges stehen, um wenig später die breite Straße zu überfluten, auf der Autobusse, Taxis und Hunderte von Fahrzeugen unterschiedlichster Form so urplötzlich in Reih und Glied angehalten hatten, als wären sie von einer mächtigen, unsichtbaren Hand gestoppt worden.
Nachdem Gacel diesem Treiben eine Weile zugeschaut hatte, kam er zu dem Schluß, daß ein stämmiger Mann mit puterrotem Gesicht die treibende Kraft hinter alledem war. Unermüdlich fuchtelte der Uniformierte mit den Armen, als hätte sich der Wahnsinn seines Geistes bemächtigt. Mit Hilfe einer kleinen Pfeife erzeugte er derart schrille und wütende Töne, daß die Passanten stehenblieben, als käme dieses Pfeifen unmittelbar aus Allahs Mund.
Dieser Mann war zweifellos wichtig. Daran änderte sein gerötetes Gesicht nichts und auch nicht die Schweißflecken auf seiner Uniform. Sogar die größten Lastwagen hielten an, wenn er die Hand hob, und sie wagten erst weiterzufahren, nachdem er ihnen die Erlaubnis dazu erteilt hatte.
Und genau hinter dem Mann erhob sich das große, graue, festgefügte, mit allerlei Verzierungen überladene Gebäude, von dem der Eisenbahner gesprochen hatte! Es hatte weiße Jalousien, einen kleinen Vorgarten mit ein paar kümmerlichen Bäumen und war umgeben von einem hohen, eisernen Zaun.
Dort also wohnte, genauer gesagt, arbeitete der Innenminister Ali Madani — der Mann, der seine, Gacels, Frau und Kinder in der Gewalt hatte.
Gacel faßte einen Entschluß. Er raffte seine Habseligkeiten zusammen und ging schnurgerade über die Straße zu dem Dicken mit dem roten Gesicht. Der warf ihm einen langen, verwunderten Blick zu, ohne jedoch einen Augenblick lang davon abzulassen, mit den Armen zu fuchteln und die Trillerpfeife zu betätigen.
Gacel blieb vor ihm stehen. »Wohnt dort drüben der Minister Madani?« fragte er, und in seiner tiefen Stimme lag ein solcher Ernst, daß sie den Polizisten ebenso beeindruckte wie die wallenden Gewänder und der Gesichtsschleier.
»Was hast du gesagt?«
»Ob dort drüben der Minister Madani wohnt oder arbeitet…«
»Ja, dort drüben hat er sein Büro, und in fünf Minuten, um Punkt acht Uhr, wird er eintreffen. Aber jetzt mach, daß du weiterkommst!«
Gacel nickte wortlos und überquerte wiederum unter den Blicken des verwirrten Verkehrswächters, der sekundenlang bei seiner Arbeit aus dem Takt geraten war, die Straße.
Am Strand blieb er stehen und wartete.
Genau fünf Minuten später hörte er das Heulen einer Sirene. Zwei Motorräder tauchten auf, gefolgt von einem langen, schweren, schwarzen Automobil. In der Allee wurde der gesamte Verkehr angehalten, damit die Limousine mit ihrer Eskorte ungehindert vorankam. Schon fuhr sie majestätisch durch das eiserne Tor in den Vorgarten des grauen Gebäudes.
Von weitem konnte Gacel die Gestalt eines eleganten, hochmütigen Mannes erkennen. Feierlich von sich verbeugenden Türstehern und Funktionären begrüßt, stieg er aus dem Wagen und ging bedächtig die fünf Marmorstufen bis zum pompösen Eingang hinauf. Dieser Eingang wurde von zwei Soldaten mit schußbereiten Maschinenpistolen bewacht.
Sobald Madani verschwunden war, ging Gacel erneut quer über die Straße, sehr zum Verdruß des Schutzmannes, der ihn die ganze Zeit nervös aus dem Augenwinkel heraus beobachtet hatte.
»War das der Minister?« fragte Gacel.
»Ja, das war er. Aber ich habe dir doch gesagt, du sollst abhauen! Laß mich in Ruhe!«
»Hör zu!« erwiderte der Targi kurz und bündig, mit einem drohenden Unterton in der Stimme. »Ich möchte, daß du dem Minister etwas von mir ausrichtest: Wenn er bis übermorgen meine Familie nicht freiläßt, und zwar genau hier, an dieser Stelle, dann werde ich den Präsidenten töten!«
Der dickliche Polizist starrte ihn sprachlos an. Es dauerte eine Weile, bis er stotternd die Worte herausbrachte: »Was… was hast du da gesagt? Du… du willst den Präsidenten umbringen?«
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