Aber Gacel dachte nicht daran. Er rollte den Teppich auseinander, wickelte in ihm seine Waffen ein, klemmte sich das Bündel unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Oben auf dem Dach des Autobusses stand der Schaffner und schüttelte belustigt den Kopf.
Die Eisenbahn war noch schmutziger, unbequemer und lauter als der Autobus. Sie hatte zwar den Vorteil, daß ihre Räder nicht platzen konnten, aber dafür mußten die Passagiere Rauch und Ruß in Kauf nehmen. Außerdem hielt die Eisenbahn mit nervtötender Regelmäßigkeit in allen Städten und Dörfern, ja sogar bei einzelnen Häusern, die am Weg lagen.
Als Gacel den Zug fauchend und dicke Dampfwolken ausstoßend herannahen sah, mußte er unwillkürlich an ein Ungeheuer aus einer von Suilems Geschichten denken. Eine fast unkontrollierbare Panik packte ihn; er mußte seine ganze Tapferkeit als Krieger und die Gelassenheit eines amahar vom glorreichen »Volk des Schleiers« aufbieten, um sich von dem Gewoge der Fahrgäste in einen der ramponierten Waggons mit harten Sitzen aus Holz drängen zu lassen.
Er bemühte sich, das Verhalten der anderen Passagiere nachzuahmen. Den Teppich und den Lederbeutel legte er ins Gepäcknetz. Dann setzte er sich in den entferntesten Winkel und versuchte sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß dies letztlich nur eine Art großer Autobus war, der auf stählernen Stangen lief und auf diese Weise nicht mit der staubigen Piste in Berührung kam.
Doch als ein lautes Pfeifen ertönte und sich die Lokomotive mit einem Ruck in Bewegung setzte, als eiserne Puffer aneinanderstießen und sich die Heizer etwas zu brüllten — da blieb Gacel vor Schreck fast das Herz stehen, und er mußte sich mit beiden Händen an die Sitzbank klammern, um nicht kopfüber durch das Fenster auf den Bahnsteig zu fliegen.
Später, als der Zug auf einer abschüssigen Strecke die Geschwindigkeit von fast einhundert Kilometern in der Stunde erreichte und die rauchgeschwängerte Luft ungehindert ins Abteil wehte, als Gacel dicht neben dem Zug Masten, Bäume und Häuser mit schwindelerregendem Tempo vorbeihuschen sah, da glaubte er, er würde all dies nie überleben. Um sich selbst daran zu hindern, laut zu schreien und flehentlich darum zu bitten, man möge diese infernalische Maschine zum Stehen bringen, biß er mit ganzer Kraft auf den Saum seines Gesichtsschleiers.
Am frühen Nachmittag tauchten in der Ferne Berge auf. Gacel glaubte zu träumen.
Niemals hätte er sich vorzustellen gewagt, daß es solche gewaltigen Bodenerhebungen gab. Wie ein unüberwindliches Hindernis ragten die zerklüfteten, hochmütigen, von einer weißen Kruste überzogenen Gipfel in den Himmel.
Gacel drehte sich nach einer dicken Frau um, die hinter ihm saß und die die meiste Zeit damit verbrachte, zwei zum Verwechseln ähnlichen Säuglingen die Brust zu geben.
»Was ist das da hinten?« fragte er sie.
»Schnee«, antwortete die Frau und setzte die überlegene Miene eines Menschen mit großer Lebenserfahrung auf. »Schau zu, daß du dir etwas Warmes anziehst! Bald wird es hier sehr kalt sein.«
Und tatsächlich wurde es wenig später so kalt, wie es der Targi noch nie erlebt hatte. Die eisige Luft, die vereinzelt winzig kleine Schneeflocken mit sich führte, kühlte nach und nach den Waggon aus und zwang die schlotternden Reisenden, sich in alles einzuwickeln, was sie zur Hand hatten.
Als es fast schon dunkel war und der Zug irgendwo an einer winzigen Station im Gebirge hielt, verkündete der Schaffner, die Fahrgäste hätten zehn Minuten Zeit, um sich etwas zu essen zu kaufen. Gacel konnte der Versuchung nicht widerstehen.
Er sprang aus dem Zug und lief bis zum Ende des Bahnsteigs. Dort bückte er sich und berührte den Schnee mit den Händen.
Die Beschaffenheit dieser weißen Masse erstaunte ihn mehr als die Kälte, die von ihr ausging. Er hatte das Gefühl, etwas unbeschreiblich Weiches zu berühren, das leise knirschte und sich zwischen seinen Fingern auflöste. Es war nicht wie Sand, aber auch nicht wie Wasser oder Stein, nein, es unterschied sich von allem, was er bis zu diesem Augenblick berührt hatte. Gacel war beeindruckt und verwirrt zugleich. Er staunte so sehr, daß es eine Zeitlang dauerte, bis er merkte, wie sehr es ihn an den nur mit leichten Sandalen bekleideten Füßen fror.
Langsam und nachdenklich ging er zurück. Seine Entdeckung hatte ihm einen großen Schrecken eingejagt. Bei einer Straßenhändlerin erstand er eine grobe Decke, bei einer anderen eine Schüssel mit heißem Kuskus. Dann nahm er wieder seinen Platz ein, und während er schweigend aß, blickte er in die Abenddämmerung hinaus. Er betrachtete die verschneite Landschaft, die im dämmerigen Licht immer mehr verschwamm, und auch die zerkratzte hölzerne Trennwand des Abteils, in die gelangweilte Fahrgäste während der langen Stunden unterwegs zum Zeitvertreib mit dem Messer allerlei Inschriften gekratzt hatten.
Als Gacel Sayah auf diesem kleinen Bahnhof im Schnee gestanden hatte, war ihm plötzlich klargeworden, daß die Prophezeiung der alten Khaltoum wahr zu werden drohte: Die Wüste, die geliebte Wüste, in der er geboren worden war, lag hinter ihm, irgendwo auf der anderen Seite der hohen Berge, die seit einiger Zeit nicht mehr weiß, sondern von grünen Wiesen und dicken Bäumen bedeckt waren. Er, Gacel, reiste blind und unwissend einem fernen, unbekannten und feindlichen Land entgegen, um sich, nur mit einem alten Schwert und einem miserablen Karabiner bewaffnet, den Mächtigen dieser Welt zum Kampf zu stellen.
Das Kreischen von Bremsen, ein heftiger Ruck und Stimmen wie aus einem Grab weckten ihn. Es waren schlaftrunkene Stimmen, und sie klangen wie ein Echo in einer riesigen, leeren Höhle.
Gacel blickte aus dem Fenster und staunte über die Höhe der Kuppel aus Eisen und Glas. Sie wurde nur von ein paar schwachen Lampen und verstaubten Leuchtreklamen erhellt, aber dadurch wirkte sie noch höher.
Die Fahrgäste, die die lange Reise bis zur Endstation gemacht hatten, stiegen schon mit ihren abgewetzten Pappkoffern aus und gingen müde davon, während sie innerlich die Unpünktlichkeit dieser vorsintflutlichen Eisenbahn verfluchten, denn wieder einmal war der Zug mit sechs Stunden Verspätung angekommen.
Gacel stieg auch diesmal als letzter aus. Er nahm seinen Teppich, den Lederbeutel und die schwere Decke und folgte den anderen Passagieren, die einer nach dem anderen hinter einer großen Tür aus milchigem Glas verschwanden. Die grandiose, luftige Bahnhofshalle versetzte ihn in Staunen. Er sah Scharen von Fledermäusen und vernahm das leise Fauchen der Lokomotive, die nach der ermüdenden Reise Atem zu schöpfen schien.
Gacel ging quer durch den großen Wartesaal mit dem schmutzigen Marmorboden und den langen Bänken, auf denen ganze Familien an ihr armseliges Gepäck gekrallt schliefen. Nachdem er durch die Tür ins Freie getreten war, fand er sich auf einer breiten Treppe wieder und blickte auf einen weitläufigen, von mächtigen Bauwerken umgebenen Platz hinab.
Fassungslos starrte Gacel auf die Mauern mit ihren Fenstern, Türen und Baikonen.
Fast hermetisch umschlossen sie das große Areal des Platzes. Ungläubig schüttelte der Targi den Kopf, als ihm eine Vielzahl übler Gerüche in die Nase stieg. Sie waren ihm gänzlich neu und fielen über ihn her wie hungrige Bettler, die nur auf seine Ankunft gewartet hatten.
Dies war nicht der Geruch menschlichen Schweißes. So rochen auch keine Exkremente oder verwesendes Aas. Auch fauliges Wasser war es nicht, wie man es aus alten Brunnen schöpfte, oder ein brünftiger Ziegenbock. Nein, dieser Geruch war weniger streng und eindeutig, aber ihm, Gacel, dem an die Weite gewöhnten Wüstenbewohner, kam er mindestens so unangenehm und penetrant vor. Hier roch es nach zusammengepferchten Menschen, nach tausend verschiedenen Speisen, die gleichzeitig zubereitet wurden, nach überquellenden Mülleimern auf den Gehwegen, nach halbverhungerten Straßenkötern und nach Kloake, die stinkend durch unterirdische Kanalisationsrohre floß, als wäre die ganze Stadt auf einem Meer von Kot erbaut.
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