»Warum befaßt du dich damit? Warum verlierst du deine Zeit mit solchen Dingen, statt in El-Akab zufrieden im Schatten zu sitzen?«
Der Sekretär des Gouverneurs der Provinz zuckte mit den Achseln. »Vielleicht, weil ich mich von der Politik enttäuscht fühle«, meinte er. »Erinnerst du dich an Hassan-ben-Koufra? Sie haben ihn abgesetzt. Er ging in die Schweiz, wo er ein kleines Vermögen zusammengekratzt hatte. Aber schon nach zwei Tagen überfuhr ihn der Lastwagen einer Getränkefirma. Es ist lächerlich! Innerhalb weniger Monate hat er sich vom Vizekönig der Wüste in ein weinendes Häufchen Elend mit gebrochenen Knochen verwandelt und befindet sich in einem Krankenhaus, auf dessen Dach Schnee liegt.«
»Ist seine Frau bei ihm?«
»Ja.«
»Dann ist es nicht schlimm«, meinte der Targi. »Die beiden lieben sich. Ich habe sie heimlich tagelang beobachtet.«
Anwar-el-Mokri nickte zustimmend. »Er war ein echter Schweinehund, ein skrupelloser Möchtegernpolitiker, ein Dieb, ein Verräter und ein Intrigant. Aber etwas Gutes war trotzdem an ihm: seine Liebe zu Tamar. Allein deshalb verdient er es, mit dem Leben davonzukommen.«
Gacel Sayah lächelte kaum merklich, doch das konnte der andere nicht sehen. Mit einem letzten Blick auf die Kreidezeichnungen an den Felswänden stand er auf und nahm sein Gewehr. »Vielleicht lasse ich dich nur am Leben, weil du soviel für die Geschichte meiner Vorfahren übrig zu haben scheinst«, sagte er. »Aber sieh dich vor! Lauf nicht los, um mich zu verraten! Wenn ich dich vor Montag in El-Akab sehe, schieße ich dir eine Kugel durch den Kopf.«
Anwar-el-Mokri hatte sich schon wieder seiner Kreide, den Bürsten und Lappen zugewandt, um mit der Arbeit fortzufahren. »Keine Angst!« sagte er. »Ich hatte nicht vor, dich zu verraten.« Und als sich der Targi mit raschen Schritten entfernte, rief er ihm hinterher: »Hoffentlich findest du deine Familie wieder!«
Der Autobus war uralt. Man konnte sich kaum vorstellen, daß irgendwo auf den Straßen dieser Welt ein ähnlich klappriges, schrottreifes und schmutziges öffentliches Transportmittel verkehrte. Mit asthmatischem Keuchen und einer Höchstgeschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern quälte er sich durch das mit spärlichem Buschwerk bewachsene, ebene Land, vorbei an den felsigen Ausläufern von Gebirgen und an riesigen Schotterhalden. Ungefähr alle zwei Stunden hielt dieser Bus an, weil ein Reifen geplatzt war oder die Räder in einer tiefen Sandkuhle steckengeblieben waren. Dann forderten der Fahrer und der Schaffner die Passagiere auf, mitsamt Hunden, Ziegen und in Körben eingesperrten Hühnern auszusteigen und am Rand der Piste zu warten, bis der Schaden behoben war.
Alle vier Stunden ergab sich darüber hinaus die Notwendigkeit, Treibstoff zu tanken. Das geschah mittels eines simplen Verfahrens, genauer gesagt mit Hilfe eines Gummischlauchs, der an den Reservetank auf dem Dach des Busses angeschlossen wurde. Übrigens mußten die Fahrgäste an besonders steilen Steigungen aussteigen und solche Streckenabschnitte zu Fuß bewältigen. So ging das zwei Tage und zwei Nächte lang. Die Leute waren eng zusammengepfercht wie Datteln in einem Beutel aus Kaninchenleder; schwitzend und in der unerträglichen Hitze nach Luft ringend, fragten sie vergeblich, wie lange diese Qual noch dauern sollte und wann endlich das Ende dieser eintönigen Wüstenlandschaft in Sicht käme.
Bei jedem Halt mußte Gacel gegen die Versuchung kämpfen, dem verdreckten Vehikel den Rücken zu kehren und die Reise zu Fuß fortzusetzen, mochte der Weg auch noch so lang sein. Doch dann sagte er sich jedesmal, daß es wohl Monate dauern würde, bis er aus eigener Kraft die Hauptstadt erreichte. Jede Stunde und jeder Tag konnten jedoch entscheidend sein für das weitere Schicksal Lailas und seiner Söhne.
Deshalb hielt er durch, aber er, der die Einsamkeit und die Freiheit mehr liebte als alles andere auf der Welt, litt unsäglich. Er ließ das Geschwätz der Kaufleute, das Gekeife der Weiber, den Lärm der Kinder und den Gestank der Tiere über sich ergehen. Anders als im »Land der Leere« gelang es ihm hier nicht, sich in einen »Stein« zu verwandeln und sich von seiner Umgebung abzukapseln, indem er seinen Geist zwang, die körperliche Hülle für eine Zeitlang zu verlassen. Jedes Schlagloch, jedes heftige Schaukeln, jede Panne, jeder Rülpser seines Nachbarn holte Gacel in die Wirklichkeit zurück. Sogar in finsterster Nacht floh ihn der Schlaf, dessen er so dringend bedurft hätte, um neue Kraft zu schöpfen und im Traum eine Zeitlang bei den Seinen zu weilen.
Endlich, als zum dritten Mal der Morgen graute und ein scharfer, unangenehmer Wind den Reisenden grauen, beißenden Staub ins Gesicht blies, erreichten sie eine menschliche Siedlung, die aus ein paar Lehmhütten, einem ausgetrockneten Flußbett und einem kleinen, verwahrlosten Platz bestand. Mitten auf diesem Platz, auf dem früher Wochenmarkt abgehalten worden war, hielt der Bus an.
»Endstation!« rief der Schaffner und sprang aufs Pflaster.
Während er seine Arme und Beine reckte, betrachtete er die Umgebung mit den Augen eines Menschen, der kaum zu glauben wagte, daß er tatsächlich wieder einmal die verrückte Gewalttour nach El-Akab und zurück mit heiler Haut überstanden hatte. Allah sei gepriesen!
Gacel stieg als letzter aus. Er betrachtete das bröckelige Gemäuer einer kleinen Markthalle, die so aussah, als könne sie bei jedem Windstoß zusammenkrachen.
Verwirrt trat er zu dem Schaffner und fragte: »Ist dies die Hauptstadt?«
»O nein!« erwiderte der Mann sichtlich amüsiert. »Aber wir können nicht weiterfahren. Wenn wir uns mit dieser Kiste auf der Landstraße sehen lassen würden, kämen wir alle ins Irrenhaus.«
»Was muß ich tun, um in die Hauptstadt zu gelangen?«
»Du kannst einen anderen Autobus nehmen, aber ich empfehle dir die Eisenbahn, die ist nämlich schneller.«
»Was ist eine Eisenbahn?«
Den Mann schien diese Frage nicht zu überraschen. Er hatte gewiß schon oft mit Beduinen zu tun gehabt, denn immerhin fuhr er seit nahezu zwanzig Jahren mit dem klapprigen Bus durch die Wüste. »Am besten, du gehst hin und schaust sie dir selbst an«, antwortete er. »Du brauchst nur diese Straße entlangzugehen. Drei Blöcke weiter siehst du dann ein braunes Gebäude. Da gehst du hinein.«
»Drei was?«
»Drei Blöcke, drei Seitenstraßen…« Der Schaffner machte eine großspurige Handbewegung. »Ach so, bei euch gibt es so etwas ja nicht… Geh einfach zu dem braunen Gebäude, du kannst es nicht verfehlen.«
Gacel nickte, nahm sein Gewehr, das Schwert und den Lederbeutel, der Munition, ein wenig Proviant und seine übrige Habe enthielt, und ging in der angegebenen Richtung davon, aber der Schaffner, der auf das Dach des Autobusses geklettert war, schrie ihm hinterher: »He! Hier kannst du nicht bewaffnet in der Gegend rumspazieren! Wenn sie dich so erwischen, geht es dir dreckig. Hast du einen Waffenschein?«
»Einen was?«
»Die Erlaubnis, Waffen zu tragen!« Der Schaffner hob abwehrend die Arme. »Schon gut, ich seh schon, daß du keinen Waffenschein hast. Versteck das Zeug, sonst landest du im Gefängnis!«
Gacel blieb unschlüssig mitten auf dem Platz stehen. Er war verwirrt und wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Da sah er, wie einer der Fahrgäste sich anschickte, in die entgegengesetzte Richtung davonzugehen. Er schleppte einen Koffer auf der Schulter, trug einen zweiten Koffer in der Hand und einen zusammengerollten Teppich unter dem anderen Arm. Gacel hatte eine Idee. Er lief zu dem Mann, hielt ihm eine goldene Münze unter die Nase und sagte: »Verkauf mir den Teppich!«
Der andere antwortete nicht einmal. Er nahm die Münze, überließ Gacel die Teppichrolle und ging rasch davon, als befürchtete er, Gacel könnte es sich noch anders überlegen.
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