Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß dies für immer vorbei sein sollte und daß er niemals mehr zu seinem Brunnen, zu seinen Palmen, zu seinem Vieh und vor allem zu seiner Familie zurückkehren durfte, bloß weil sich ein unsichtbarer, böswilliger Geist an seine Fersen geheftet hatte.
»Geh fort!« bat er diesen Geist ein ums andere Mal. »Ich habe es satt, dich mit mir herumzuschleppen und andere Menschen zu töten, ohne zu wissen, warum ich das tue!«
Aber selbst wenn der gri-gri bereit gewesen wäre, ihn in Ruhe zu lassen — die ruhelosen Seelen von Mubarrak, dem Hauptmann und den Soldaten würden es ihm nie erlauben. Das wußte Gacel genau.
An jedem Wochenende verließ Anwar-el-Mokri sein bequemes, kühles Büro im Gouverneurspalast, stieg in seinen alten Simca, den er, mit Proviant und Wasser beladen, in einer nahen Gasse abgestellt hatte, und fuhr knatternd zu den nahen Ausläufern des Gebirges, an dessen Fuß El-Akab lag. Dort oben ragten die Ruinen einer einst uneinnehmbaren Festung in den Himmel. In Kriegszeiten hatte sie früher den Bewohnern der Oase als Zufluchtsort gedient.
In den Mauern der bis zur Unkenntlichkeit entstellten alcazaba gab es nichts mehr zu erforschen: Die Ruinen waren teilweise von den Franzosen abgetragen worden.
Die ehemaligen Kolonialherren hatten mit den Steinen in El-Akab Verwaltungsbauten errichten lassen. Anwar-el-Mokri hatte jedoch entdeckt, daß es an den Felswänden und in den Höhlen hinter den eigentlichen Ruinen eine Unzahl primitiver Wandmalereien gab, die von der Urzeit der Sahara und ihren Bewohnern erzählten. Man mußte sie nur zu finden wissen und sie vom Staub der Jahrtausende befreien.
Elefanten, Giraffen, Antilopen und Leoparden, Jagdszenen und Bilder, die von Liebe und vom Alltag der Ureinwohner dieses Landes berichteten — sie alle kamen unter Anwars sachkundigen Händen zum Vorschein. Unendlich vorsichtig säuberte er das Gestein und ließ sich häufig nur von einer Art angeborenem archäologischem Instinkt leiten, der ihn genau dort nach einer Malerei suchen ließ, wo er sie logischerweise selbst in den Stein geritzt hätte.
Dies war Anwar-el-Mokris großes Geheimnis, aber es war auch sein Stolz. In seinem winzigen Junggesellenappartement häuften sich Hunderte von gelungenen Farbfotografien, das Ergebnis von zwei Jahren gründlicher Arbeit. Diese Fotos sollten eines Tages ein dickes Buch illustrieren, mit dem Anwar-el-Mokri die Welt zu überraschen gedachte. Sein Titel: »Die Fresken von El-Akab«.
Er war von der Gewißheit beseelt, daß er eines Tages auf das stoßen würde, wonach er von Anfang an gesucht hatte: auf eine Replik der »Marsmenschen von Tassili«, jener mehr als zwei Meter hohen Figuren, die aufgrund ihrer Haltung und Kleidung unwillkürlich den Gedanken nahelegten, daß sie Außerirdische darstellten, die in Urzeiten dieses Land besucht hatten, als es noch fruchtbar gewesen war und von allerlei exotischem Getier wimmelte.
Der Nachweis, daß hier, weit von Tassili entfernt, ebenfalls die Bewohner eines fremden Gestirns gelandet waren — dieser Nachweis wäre ohne Zweifel die Krönung aller Ambitionen gewesen, die der Sekretär des Gouverneurs dieser Provinz hegte. Für eine einzige jener Felsmalereien hätte er mit Freuden seine politische Karriere geopfert, mochte die Darstellung auch noch so »primitiv« sein.
An jenem glutheißen Mittag, als die Sonne senkrecht auf seinen recht extravaganten Strohhut hinabbrannte, fühlte Anwar beim Anblick einer glatten Felswand im Inneren einer winzigen, gegen Wind und Wetter geschützten Höhle in sich die Hoffnung auf einen neuen und vielleicht aufsehenerregenden Fund aufkeimen. Eine seltsame Nervosität bemächtigte sich seines ganzen Körpers wie in einer Vorahnung, und er merkte, daß ihm die Hände zitterten, als sein Blick auf eine tiefe Kerbe fiel, die durchaus zu den Konturen einer hohen, ziemlich dilettantisch dargestellten Gestalt gehören konnte.
Anwar-el-Mokri trocknete den Schweiß, der über seine Stirn lief und die Gläser seiner Brille beschlagen ließ. Dann zeichnete er mit weißer Kreide die sich deutlich abzeichnende Linie nach, nahm einen kleinen Schluck Wasser — und fuhr zu Tode erschrocken zusammen, als sich in seinem Rücken eine ihm bekannte, tiefe, furchteinflößende Stimme vernehmen ließ: »Wo ist meine Familie?«
Unwillkürlich drehte er sich halb um. Die Knie wurden ihm weich, so daß er sich an die Felswand lehnen mußte. Weniger als drei Meter von ihm entfernt erblickte er die dunkle Mündung eines Gewehrs und dahinter die hoch aufgerichtete Gestalt des Targi, der ihn bis in seine Träume verfolgte.
»Du?« war alles, was Anwar herausbrachte.
»Ja, ich!« lautete die trockene Antwort. »Wo ist meine Familie?«
»Deine Familie?« wiederholte Anwar verblüfft. »Was habe ich mit deiner Familie zu schaffen? Was ist geschehen?«
»Die Soldaten haben sie mitgenommen.«
Anwar-el-Mokri spürte, wie seine Beine nachgaben. Er setzte sich auf einen Felsbrocken, nahm den Hut ab und wischte sich mit der Handfläche über das schweißnasse Gesicht. »Die Soldaten?« wiederholte er ungläubig. »Das ist nicht möglich! Nein, das ist nicht möglich… Ich würde es wissen…« Mit zitternden Fingern zog er ein Taschentuch aus der Gesäßtasche, trocknete die Gläser seiner Brille und blickte Gacel aus kurzsichtigen Augen an. »Hör zu!« sagte er, und seine Stimme klang absolut ehrlich. »Der Minister erwog die Möglichkeit, deine ganze Familie zu verhaften und sie im Austausch gegen Abdul-el-Kebir freizulassen, aber der General war dagegen, so daß die Sache fallengelassen wurde. Das schwöre ich dir!«
»Welcher Minister? Wo wohnt er?«
»Der Innenminister Madani — Ali Madani! Er wohnt in der Hauptstadt. Aber ich glaube nicht, daß er deine Familie hat.«
»Wenn er sie nicht hat, dann haben die Soldaten sie.«
»Nein«, erwiderte Anwar-el-Mokri absolut überzeugt. »Die Soldaten auf keinen Fall. Der General ist ein Freund von mir. Zweimal in der Woche essen wir zusammen. Er würde so etwas nicht machen. Außerdem hätte er es mir erzählt.«
»Meine Familie ist aber nicht da! Einer meiner Diener sah, wie sie von Soldaten mitgenommen wurde. Fünf Soldaten lauern noch immer auf mich im guelta der Huaila-Berge.«
»Das sind bestimmt keine Soldaten«, beharrte Anwar-el-Mokri unbeirrbar. »Eher sind es Polizisten, Untergebene des Ministers.« Er schüttelte den Kopf und fügte verächtlich hinzu: »Der ist zu allem fähig! Der ist ein Schweinehund!« Damit setzte er sich die blitzsaubere Brille auf und betrachtete Gacel interessiert. »Bist du wirklich quer durch das Land der Leere von Tikdabra gelaufen?« erkundigte er sich.
Als der Gefragte nur stumm nickte, schnaufte Anwar-el-Mokri kurz und geräuschvoll, als wollte er auf diese Weise sein Staunen oder seine Bewunderung zum Ausdruck bringen. »Phantastisch!« rief er. »Wirklich phantastisch… Weißt du, daß Abdul-el-Kebir in Paris ist? Die Franzosen unterstützen ihn, und es ist gut möglich, daß du, ein Targi, der nicht lesen und schreiben kann, in unserem Land einen Kurswechsel von historischer Bedeutung bewirkt hast.«
»Ich habe kein Interesse daran, etwas zu ändern«, erwiderte Gacel. Er streckte die Hand aus, nahm die Feldflasche und trank daraus, wobei er kaum seinen Gesichtsschleier anhob. »Ich will nur meine Familie wiederhaben und in Ruhe gelassen werden.«
»Das wollen wir alle: in Ruhe gelassen werden. Du mit deiner Familie und ich mit meinen Höhlenmalereien. Aber ich zweifle daran, ob die anderen das zulassen.«
Gacel wies mit einer Kopfbewegung auf die mit Kreide nachgezeichneten Konturen an mehreren Felswänden. »Was ist das?« fragte er.
»Die Geschichte deiner Vorfahren. Oder die Geschichte der Menschen, die in diesem Land lebten, bevor sich die Tuareg zu den Herren der Wüste machten.«
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