Ein Kopfschuß setzte Maliks Leben ein Ende. Leutnant Rahman blieb noch einen Augenblick nachdenklich stehen und blickte zu dem toten Sergeanten hin. Dann steckte er die Pistole ins Futteral zurück, drehte sich auf dem Absatz um und trat zu den schweigenden Zuschauern, die sich nicht von der Stelle gerührt, sondern reglos alles mitangesehen hatten. Sein Blick wanderte von einem zum anderen, und er versuchte, in den Augen der Männer zu lesen. Als er zu reden begann, schien es, als hätte er sich endlich dazu durchgerungen, etwas zu sagen, das ihn schon seit langem quälte: »Ihr seid der Abschaum unserer Streitkräfte«, sagte er. »Männer wie ihr haben mich schon immer mit Abscheu erfüllt, und ich hätte mir nie gewünscht, solche Soldaten zu befehligen. Lauter Diebe, Mörder, Rauschgiftsüchtige und Triebtäter! Nichts als Dreck!« Er holte tief Luft. »Aber vielleicht seid ihr im Grunde selbst nur Opfer und das genaue Abbild dessen, was diese Regierung aus unserem Land gemacht hat.«
Rahman gab den Männern ein paar Augenblicke Zeit, um über seine Worte nachzudenken, dann fuhr er lauter als zuvor fort: »Es wird allmählich Zeit, daß sich gewisse Dinge ändern! Präsident Abdul-el-Kebir, dem es gelungen ist, über die Grenze zu entkommen, hat alle, die die Wiederherstellung von Demokratie und Freiheit wünschen, dazu aufgefordert, sich zusammenzuschließen und an seiner Seite zu kämpfen.« Wieder unterbrach sich Rahman, als wäre er sich bewußt, daß jetzt unbedingt ein gewisses Maß an Pathos vonnöten war. »Ich werde mich ihm anschließen!« rief er aus. »Was ich heute gesehen habe, hat endgültig den Ausschlag gegeben. Ich bin entschlossen, mit der Vergangenheit zu brechen und für den einzigen Mann zu kämpfen, dem ich wirklich vertraue. Und euch will ich eine Chance geben! Wer bereit ist, mir zu folgen und mit mir über die Grenze zu gehen, um zu Abdul-el-Kebir zu stoßen, der soll es jetzt sagen!«
Die Männer blickten sich ungläubig an. Es wollte ihnen nicht in den Kopf, daß die Erfüllung des sehnlichsten ihrer Wunschträume, nämlich dem Inferno von Adoras zu entkommen und außer Landes zu gelangen, ihnen jetzt ausgerechnet von dem Offizier, den sie für ihren neuen Kerkermeister gehalten hatten, auf einem Silbertablett serviert wurde.
Viele Kameraden hatten im Lauf der Zeit zu fliehen versucht, aber immer waren sie wieder gefangen, standrechtlich erschossen oder bis ans Ende ihrer Tage eingesperrt worden. Doch nun stand dieser junge Leutnant in seiner adretten Uniform vor ihnen, begleitet von seiner attraktiven Ehefrau und einem hünenhaften, allem Anschein nach jedoch gutmütigen Sergeanten — er stand da und versuchte ihnen weiszumachen, daß das, was soeben noch als das schwerste Verbrechen gegolten hatte, plötzlich wie durch Zauberei zu einem Akt des Heroismus wurde.
Einer der Soldaten hätte fast laut losgelacht, ein anderer machte vor Freude einen Luftsprung, und als Leutnant Rahman, der sich über die wahren Motive dieses bunt zusammengewürfelten Haufens keinerlei Illusionen machte, verlangte, daß jeder, der bereit sei, ihm zu folgen, die Hand heben solle, da schossen sämtliche Arme in die Höhe, als wären diese Männer willenlose Marionetten.
Der Leutnant lächelte und tauschte mit seiner Frau, die sein Lächeln erwiderte, einen Blick. Dann sagte er zu Ajamuk: »Bereiten Sie alles vor! In zwei Stunden fahren wir los.« Mit der Reitgerte wies er auf die große Baracke, hinter deren vergitterten Fenstern sich die Familie von Gacel Sayah drängte und den Gang der Ereignisse verfolgte. »Die nehmen wir mit! Auf der anderen Seite der Grenze sind sie in Sicherheit.«
Es war eine lange Reise, und Gacel wußte nicht genau, wohin er sich wenden sollte, um nach Hause zu gelangen, ja er wußte nicht einmal, ob er überhaupt noch ein Zuhause hatte. Er suchte nach seiner Familie, ohne mit Sicherheit sagen zu können, ob es diese Familie noch gab.
Es war eine lange Reise.
Zuerst ging er einen Tag lang nach Westen, um das »Land der Leere« zu umgehen.
Dann, als er davon überzeugt war, daß er Tikdabra hinter sich gelassen hatte, bog er nach Norden ab. Es war ihm klar, daß er irgendwann wieder die Grenze überqueren würde und daß jederzeit die Soldaten auftauchen konnten, die für ihn mittlerweile zu einem Alptraum geworden waren.
Es war eine lange Reise, eine traurige Reise.
Niemals, nicht einmal in den schlimmsten Augenblicken, als er sich mitten in Tikdabra befunden hatte, hatte er sich darüber Rechenschaft abgelegt, daß der Tod sein ständiger Reisegefährte war. Nie hätte er sich ausgemalt, daß die Dinge sich derartig zuspitzen könnten. Für ihn, den edlen Krieger aus einem ebenso edlen Kriegervolk, stellte nur der Tod eine endgültige Niederlage dar.
Doch jetzt entdeckte Gacel schlagartig, daß der Tod nichts bedeutete im Vergleich zu der Tatsache, daß er die liebsten Menschen zu Opfern seines Privatkrieges gemacht hatte. Das war die wirkliche Niederlage, und sie hätte nicht schlimmer sein können.
Vor seinem inneren Auge tauchten immer wieder zwanghaft die Gesichter seiner Söhne auf; er glaubte Lailas Stimme zu hören und sah noch einmal im Geiste jene unendlich vertrauten Alltagsszenen mit seiner Familie vor sich; er sehnte sich nach der Einsamkeit und dem Frieden seines Zeltlagers im Schatten von großen Dünen.
Dort zogen die Jahre ruhig dahin, und niemand kam, um die Beschaulichkeit dieser schlichten, scheinbar eintönigen Daseinsform zu stören.
Die kalten Stunden vor Tagesanbruch, wenn Laila eng an ihn geschmiegt seine Wärme suchte; die langen Vormittage mit dem strahlenden Licht und der spannungsgeladenen Stille, wenn er, Gacel, sich an ein Stück Wild heranpirschte; die schwer auf den Menschen lastenden Mittagsstunden mit ihrer Backofenhitze und ihrer süßen Schläfrigkeit; die Abende, wenn der Himmel rot erglühte und die Schatten in der Ebene länger wurden, als wollten sie den Horizont berühren; die duftenden, stimmungsvollen Nächte, in denen man sich beim Schein des Lagerfeuers immer wieder die schönen alten Sagen erzählte, ohne sich an ihnen satt zu hören.
Die Furcht vor dem harmatan, der tosend daherkam, und vor der Dürre; die Liebe zum reglos daliegenden flachen Land und zur schwarzen Regenwolke, die sich öffnete, damit sich die Erde mit einem grünen Teppich aus achab- Sträuchern überzog.
Eine Ziege, die erkrankte und starb; eine junge Kamelstute, die endlich trächtig war; das Weinen eines Säuglings, das Lachen eines Kindes, Lailas lustvolles Stöhnen in der Dämmerung…
Das war sein Leben gewesen, und nach ihm sehnte er sich zurück. Nie hatte er im Dasein etwas anderes angestrebt, doch nun hatte er all dies verloren, weil sein Ehrbegriff als Targi es ihm nicht gestattet hatte, eine Kränkung hinzunehmen.
Wer hätte ihm einen Vorwurf machen können, hätte er es abgelehnt, es mit einem ganzen Heer aufzunehmen? Und wer konnte ihm jetzt keinen Vorwurf machen, da ihn dieses Abenteuer seine Familie gekostet hatte?
Gacel hatte keine Vorstellung von der Größe seines Landes. Er wußte nicht einmal, wie viele Menschen in ihm lebten. Dennoch hatte er sich gegen dieses Land erhoben, gegen seine Soldaten und seine Machthaber, ohne einen Gedanken an die Folgen zu verschwenden, die eine solche Unkenntnis der Tatsachen mit sich bringen konnte.
Wo in diesem gigantischen Land sollte er nach seiner Frau und seinen Kindern suchen? Und welcher Bewohner dieses Landes könnte ihm sagen, wo sie sich gerade aufhielten?
Während Gacel Tag für Tag weiter nach Norden wanderte, wurde ihm immer mehr bewußt, wie klein er selbst war — und das, obwohl es nicht einmal der riesengroßen Wüste gelungen war, während der vierzig Jahre seines bisherigen Daseins in ihm den geringsten Zweifel an sich selbst zu wecken. Aber jetzt kam Gacel sich winzig und machtlos vor, jedoch nicht angesichts der Größe dieser Welt, sondern wenn er an die Schlechtigkeit ihrer Bewohner dachte. Sie hatten nicht davor zurückgeschreckt, Frauen und Kinder als Waffen in einem Kampf zwischen Männern einzusetzen.
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