Gacel lächelte kaum merklich und erwiderte: »Laß dir einen Rat geben: Hüte dich vor Tikdabra!«
Nach dreistündiger Fahrt berührte er leicht den Ärmel des Offiziers und sagte: »Bitte anhalten!«
Der andere brachte den Jeep zum Stehen und gab dem hinter ihnen herfahrenden Panzer mit erhobenem Arm ein Zeichen, ebenfalls anzuhalten. »Was ist los?« fragte er.
»Ich steige hier aus.«
»Hier?« wunderte sich der Uniformierte und warf einen ratlosen Blick auf die von Steinen und Dornenbüschen übersäte Ebene. »Was willst du denn hier anfangen?«
»Ich will nach Hause«, erwiderte der Targi. »Du fährst nach Süden, aber meine Familie befindet sich irgendwo im Nordosten, sehr weit von hier, im Huaila-Gebirge. Es wird Zeit, daß ich zurückkehre.«
Der Offizier schüttelte verständnislos den Kopf. »Zu Fuß? Und allein?« fragte er verwundert.
»Irgend jemand wird mir unterwegs ein Kamel verkaufen.«
»Der Weg ist weit, und du müßtest die ganze Zeit am Rand des Landes der Leere entlanglaufen.«
»Ja, aber genau deshalb muß ich sobald wie möglich aufbrechen.«
Der Offizier drehte sich um und wies mit dem Kinn auf die reglose Gestalt von Abdul-el-Kebir. »Willst du nicht warten, bis er aufwacht? Sicher wird er sich persönlich bei dir bedanken wollen.«
Gacel lehnte rundweg ab. Er war schon ausgestiegen und griff nach seinen Waffen und seiner gerba. »Er ist mir keinen Dank schuldig«, sagte er. »Er wollte über die Grenze, und jetzt ist er drüben. Aber jetzt ist er dein Gast.« Gacel blickte lange und voller Wärme auf den Ohnmächtigen. »Sag ihm, daß ich ihm viel Glück wünsche!«
Der Offizier begriff, daß nichts in der Welt den Targi von seinem Entschluß abbringen konnte. »Brauchst du etwas?« erkundigte er sich. »Geld oder Proviant?«
Gacel schüttelte den Kopf und wies auf die weite Ebene. »Ich bin jetzt ein reicher Mann, und in dieser Gegend gibt es viel Wild. Mir fehlt nichts.«
Reglos stand er da und sah den beiden Fahrzeugen nach, die in Richtung Süden davonfuhren. Erst als sich die Staubwolke, die sie aufwirbelten, wieder gelegt hatte und das Brummen der Motoren in der Ferne verklungen war, blickte er sich um, bestimmte seine Marschrichtung, obwohl die Natur ihm hier im Flachland keinerlei Orientierungshilfe gab, und machte sich auf den Weg. Er wirkte so gelassen wie ein Mensch, der an einem schönen Abend über eine Wiese spaziert und nicht nur voller Bewunderung die Landschaft betrachtet, sondern sich auch an jedem Strauch, jedem Stein, jedem durch das Gras stelzenden Vogel und jeder über den Boden huschenden Schlange erfreut.
Er hatte Wasser, ein gutes Gewehr und Munition. Dies war seine Welt, dies war das Herz der Wüste, die er liebte. Vor ihm lag eine Reise, die er zu genießen gedachte und an deren Ende er seine Frau, seine Söhne, seine Sklaven, seine Ziegen und seine Kamele wiedersehen würde.
Eine sanfte Brise strich über das Land. In der Dämmerung verließen die Tiere ihr Versteck, um vom Laub der niedrigen Sträucher zu naschen. Gacel erlegte einen ansehnlichen Hasen und verzehrte ihn im Schein eines Feuers, das er mit trockenen Tamarisken fütterte. Danach betrachtete er die Sterne, die am Himmel funkelten, als wollten sie ihm Gesellschaft leisten. Freudig gab er sich seinen Erinnerungen hin: Lailas Gesicht und Körper, das Lachen seiner spielenden Söhne, die tiefe Stimme und die intelligenten Worte seines Freundes Abdul-el-Kebir — und das schöne, faszinierende, unvergeßliche Abenteuer, das ihm an der Schwelle zum reifen Mannesalter zu erleben vergönnt gewesen war. Bis ans Ende seiner Tage würde es sein Dasein prägen. Die alten Männer seines Volkes würden noch nach vielen Jahren davon erzählen und die Knaben das Staunen lehren, wenn sie von den Taten des einzigen Mannes erfuhren, der es mit einem ganzen Heer aufgenommen und gleichzeitig das »Land der Leere« von Tikdabra besiegt hatte.
Eines Tages würde er selbst seinen Enkeln erzählen können, was er an jenem Tag empfunden hatte, als er inmitten der Geister der Großen Karawane gesessen und ihnen seine Angst eingestanden hatte, in Tikdabra zugrunde zu gehen. Er würde den Kindern seiner Kinder berichten, wie die Mumien ihm mit dumpfer Stimme und fleischlosen Fingern den richtigen Weg gewiesen hatten und wie er, ohne ein einziges Mal anzuhalten, drei Tage und drei Nächte lang durch die Wüste gestolpert war, wissend, daß weder er noch das Kamel nach einem Halt die Kraft gefunden hätten, den Weg fortzusetzen. Dank seines unbeugsamen Willens hatten sie sich ungeachtet der Hitze, des Durstes und der Erschöpfung vorwärts bewegt, als wären sie keine Wesen aus Fleisch und Blut, sondern Maschinen.
Und jetzt ruhte er hier im weichen Sand aus, eine Hand auf der köstlich feuchten, prall mit Trinkwasser gefüllten gerba. Neben dem Feuer lagen die noch warmen, dampfenden Reste des Hasen. An seinem Gürtel baumelte ein Beutel voller Gold und Edelsteine, und er war mit sich selbst und mit der ihn umgebenden Welt zufrieden. Es erfüllte ihn mit Stolz, ein Targi zu sein, aber noch stolzer machte es ihn, bewiesen zu haben, daß niemand, nicht einmal die Regierung, sich den Luxus erlauben konnte, die Sitten und Gebräuche eines Volkes zu mißachten.
Er dachte auch darüber nach, wie seine Zukunft aussehen würde, fern von den altvertrauten Weidegründen und den Orten, an die er sich seit seiner Kindheit gewöhnt hatte. Die Vorstellung, vielleicht jenseits der Grenzen in einem anderen Land Zuflucht suchen zu müssen, beunruhigte ihn nicht, denn im Umkreis von Tausenden von Kilometern war die Wüste dieselbe, ganz gleich, zu welchem Land sie gehörte. Und er, Gacel, mußte nicht befürchten, daß ihm jemand den Sand, die Felsen und die Geröllhalden streitig machen würde, denn es war offenkundig, daß es mit jedem Tag weniger Menschen gab, die die Wüste zu ihrem Lebensraum machten.
Gacel hatte die Kriege und Kämpfe satt. Er sehnte sich nach dem Frieden seiner khaima , nach tagelangen Jagden und den Geschichten, die der alte Suilem bis spät in die Nacht am Feuer erzählte, Geschichten, die Gacel schon seit seiner Kindheit kannte und an denen er sich nie satt hören würde — bis der getreue Diener eines Tages für immer verstummte.
Am späten Nachmittag des dritten Tages sichtete Gacel schon von weitem neben einer Wasserstelle eine Anzahl von khaimas und seribas [39] seriba — Hütte aus Schilf, Stroh oder Palmzweigen
. Es stellte sich heraus, daß es sich um Tuareg vom »Volk der Lanze« handelte, arme, aber liebenswerte und gastfreundliche Menschen, die sich nicht nur bereit erklärten, ihm ihr bestes Mehari zu verkaufen, sondern die ihm zu Ehren auch ein Lamm schlachteten und daraus den leckersten Kuskus bereiteten, den er seit langem gegessen hatte. Anschließend luden sie ihn zu einem Fest ein, das am folgenden Abend stattfinden sollte.
Gacel wußte, daß er sie sehr kränken würde, wenn er die Einladung ausschlug.
Dem kleinen roten Lederbeutelchen, das an seinem Hals baumelte, entnahm er eine schwere Goldmünze und legte sie vor sich auf den Boden. »Ich werde nur teilnehmen, wenn ich die Hammel bezahlen darf«, sagte er. »Das ist mein Preis.«
Das Oberhaupt der Tuareg ging ohne ein weiteres Wort darauf ein; er nahm die Münze und betrachtete sie interessiert.
»Davon sind kaum mehr welche im Umlauf«, meinte er nach einer Weile. »Jetzt gibt es nur noch schmutzige Geldscheine, deren Wert sich jeden Tag ändert. Wo hast du die her?«
»Von einem alten Karawanenführer«, antwortete Gacel wahrheitsgemäß, verschwieg jedoch wohlweislich die ganze Wahrheit. »Er hatte viele davon.«
»Mit solchen Münzen bezahlte man früher die Karawanenführer und die Kameltreiber«, meinte der andere sachkundig. »Aber man kaufte davon auch Tiere und Proviant. Soll ich dir was erzählen?« Er lächelte ironisch. »Ich ließ mich damals für die Große Karawane anheuern, aber zehn Tage, bevor es losgehen sollte, fing ich an, Blut zu spucken. Deshalb nahmen sie mich nicht mit. Du hast Tuberkulose , sagten sie. Bis Tripoli schaffst du es nie! « Der Mann schüttelte den Kopf. Offenbar hatte er sich noch immer nicht mit dem Scherz abgefunden, den das Schicksal sich mit ihm erlaubt hatte. »Bald werde ich mein neunzigstes Lebensjahr vollenden«, fuhr er fort, »aber von der Großen Karawane gibt es noch immer keine Spur.«
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