Es folgten einige Sekunden tiefster Stille. Der Korporal drehte mühsam den Kopf zur Seite und erblickte das Gesicht seines Kameraden, in dessen Stirn ein kleines rundes Loch war.
Der Korporal selbst hatte in der Brust und dicht über dem Magen starke Schmerzen, aber er riß sich zusammen, drehte sich zuerst auf den Rücken und richtete sich anschließend mühsam auf, um nach dem Schützen Ausschau zu halten.
Aber da war niemand! Die Ebene lag wie immer menschenleer da, trostlos und glatt. Sie bot keinem Scharfschützen ein Versteck. Doch dann, als sich der Blick des Korporals schon langsam zu trüben begann, tauchte plötzlich vor ihm ein Mann auf, halb nackt und mit Blut besudelt, wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Es war ein schlanker, kräftiger Mann mit einem Gewehr in der Faust, und die tote Kamelstute schien ihn aus ihrem aufgeblähten Bauch geboren zu haben.
Nach einem kurzen Blick, mit dem er sich vergewisserte, daß keine unmittelbare Gefahr drohte, trat der Unbekannte neben den Verwundeten, schob mit dem Fuß die Maschinenpistole des Dicken beiseite und ging rasch auf den Jeep zu. Hastig kramte er in dem Fahrzeug herum, bis er eine Feldflasche mit Wasser fand. Er trank lange daraus, ohne jedoch den Blick von dem Sterbenden abzuwenden.
Er trank und trank. Das Wasser lief ihm über den Hals und die Brust. Er verschluckte sich und hustete, aber er trank weiter, als hätte er jahrelang Durst gelitten. Am Ende, als er den letzten Tropfen zu sich genommen hatte, rülpste er laut und stützte sich sekundenlang auf das Reserverad, wobei er wie nach einer ungeheuerlichen Anstrengung heftig um Atem rang.
Nach einer Weile nahm er eine zweite Feldflasche, trat zu dem reglos daliegenden Abdul-el-Kebir, stützte dessen Kopf und gab ihm so gut es ging zu trinken, aber das meiste Wasser rann nicht durch Abduls Kehle, sondern versickerte im Sand.
Nachdem Gacel sich das Gesicht befeuchtet hatte, wandte er sich dem Verwundeten zu und fragte: »Willst du auch Wasser?«
Korporal Osman nickte. Der Targi beugte sich zu ihm hinunter, faßte ihn unter die Achseln, schleppte ihn zum Jeep und lehnte ihn gegen die schattige Seite des Fahrzeuges. Dann reichte er ihm die Feldflasche und half ihm beim Trinken. Mit einem Blick auf die Wunde in der Brust des Korporals, aus der das Blut in kleinen Stößen hervorquoll, meinte er kopfschüttelnd: »Ich glaube, du mußt sterben. Du brauchst dringend einen Arzt, aber hier gibt es weit und breit keinen.«
Osman nickte wieder und fragte mit schwerer Zunge: »Du bist Gacel, nicht wahr? Ich hätte daran denken sollen, und ich hätte mich auch an den alten Jägertrick erinnern müssen. Aber die Kleidung, der Turban und der Schleier haben mich getäuscht.«
»Genau das war meine Absicht.«
»Wie konntest du wissen, daß wir zu dir kommen würden?«
»Ich entdeckte euch im Morgengrauen und hatte Zeit genug, alles vorzubereiten.«
»Hast du das Kamel getötet?«
»Ja, aber es wäre sowieso gestorben.«
Der Korporal hustete. Ein dünnes rotes Rinnsal floß aus seinem Mundwinkel. Mit dem Ausdruck großen Schmerzes und tiefer Verzweiflung schloß er einen Augenblick lang die Augen. Als er sie wieder aufschlug, wies er mit einer schwachen Gebärde auf den Lederbeutel, der noch immer neben der Leiche des Dicken lag. »Hast du die Große Karawane gefunden?« fragte er.
Gacel machte eine zustimmende Bewegung und wies mit einer Kopfbewegung hinter sich. »Sie ist da hinten, drei Tagesreisen von hier.«
Der Korporal bewegte langsam den Kopf hin und her, als kostete es ihn Mühe, diese Behauptung zu glauben, aber vielleicht staunte er auch nur darüber, daß es die Große Karawane also wirklich gab. Er sagte nichts mehr, und zehn Minuten später war er tot. Gacel kniete bis zum Ende neben ihm und verfolgte voller Achtung den Todeskampf. Erst als er sah, daß dem Korporal der Kopf schlaff auf die Brust gesunken war, stand er auf und schleppte mit letzter Kraft den Körper von Abdul-el-Kebir zum rückwärtigen Teil des Jeeps. Er ruhte eine Weile aus, denn die Anstrengung war zu groß gewesen, dann zog er Abdul seine Gewänder aus, nahm ihm auch den Gesichtsschleier und den Turban ab und kleidete sich an.
Als er damit fertig war, fühlte er sich todmüde. Er trank noch einmal, legte sich in den Schatten des Jeeps dicht neben den toten Korporal und war gleich darauf eingeschlafen.
Drei Stunden später weckte ihn der Flügelschlag der ersten Geier. Einige zerrten schon an den Eingeweiden des toten Kamels. Andere näherten sich vorsichtig den Leichen der Soldaten. Gacel schaute zum Himmel auf. Dort oben kreisten die Aasfresser schon zu Dutzenden. Dies war die Randzone des »Landes der Leere«, und die großen Vögel, die zwischen den Büschen und Sträuchern der nahen hammada hausten, waren urplötzlich wie durch Zauberei erschienen.
Gacel war besorgt, denn eine Schar kreisender Geier war kilometerweit zu sehen, und er wußte nicht, wie weit die nächste Patrouille entfernt war. Er untersuchte den Sand. Der Boden war hart, und obwohl es im Jeep Spitzhacken und Schaufeln gab, fühlte er sich außerstande, eine Grube auszuheben, in die die Leichen von zwei Männern und einem Kamel hineingepaßt hätten. Er ging zu Abdul, betrachtete aufmerksam sein Gesicht und sah, daß er ruhiger atmete, aber er schien noch weit davon entfernt, das Bewußtsein zurückzuerlangen. Wieder gab er ihm zu trinken.
Dann stellte er fest, daß es zwei randvolle Wasserkanister, einen vollen Benzinkanister und mehr als genug zu essen gab. Lange überdachte Gacel die Lage. Es war ihm klar, daß er hier so schnell wie möglich verschwinden mußte, aber er hatte keine Ahnung, wie man einen Jeep in Gang brachte. In seinen Händen war ein solches Ding nur ein Haufen unnützer Schrott.
Er versuchte sich zu erinnern: Leutnant Rahman fuhr ein Fahrzeug, das genauso aussah, und es war ihm aufgefallen, wie Rahman an dem Lenkrad gedreht, unten auf die Pedale getreten und ständig eine lange Stange hin und her bewegt hatte, die sich rechts vom Fahrer befand und am oberen Ende eine schwarze Kugel hatte.
Gacel setzte sich auf den Fahrersitz und machte jede einzelne Bewegung des Leutnants nach. Er drehte am Lenkrad, trat mit ganzer Kraft nacheinander auf die Bremse, die Kupplung und das Gaspedal, und bemühte sich, die schwarze Kugel mal hierhin, mal dorthin zu schieben, doch der Motor blieb stumm. Nicht das geringste Geräusch war zu hören. Gacel begriff, daß alles, was er bisher getan hatte, zum eigentlichen Fahren gehörte und daß er es zuvor irgendwie schaffen mußte, den Motor anzulassen.
Er beugte sich vor und betrachtete aufmerksam die kleinen Hebel, Schalter, Knöpfe und Skalen des Armaturenbrettes. Er betätigte die Hupe, was die Geier erschreckte; er bewirkte, daß an der Windschutzscheibe vorne zwei Arme sich hin und her bewegten, aber noch immer war das ersehnte Brummen des Motors nicht zu vernehmen.
Als er es schon fast aufgeben wollte, entdeckte er einen Schlüssel, der in einem Schloß steckte. Er zog ihn heraus, und es geschah nichts. Da steckte er ihn wieder hinein. Wieder nichts. Aufs Geratewohl drehte er den Schlüssel um. Das mechanische Monstrum erwachte zum Leben. Es hustete dreimal, schüttelte sich und verstummte.
Gacels Augen leuchteten: Er war auf dem richtigen Weg! Mit einer Hand drehte er den Schlüssel im Schloß um, mit der anderen kurbelte er wie verrückt am Steuerrad. Das Resultat war dasselbe: Husten, Schütteln, Schweigen.
Er probierte etwas anderes: Schlüssel und Schaltknüppel gleichzeitig. Nichts.
Der Schlüssel und das rechte Pedal: Der Motor kreischte auf höchsten Touren, und dabei blieb es, doch als Gacel ganz langsam den Druck seines Fußes verminderte, merkte er zu seiner Zufriedenheit, daß der Motor nicht ausging, sondern behaglich schnurrte.
Danach probierte er die Bremse, die Kupplung, das Gaspedal, den Hebel der Handbremse. Alles, was er erreichte, war, daß das Fahrzeug einen Satz vorwärts machte. Die Hinterräder überrollten den Korporal Osman, aber nach drei Metern stand der Jeep wieder still.
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