Gacel war auf den Kamm einer Düne gestiegen. In der Finsternis ließ er sich auf die Knie fallen und vergrub sein Gesicht im Sand. Er mußte alle Kraft aufbieten, um den Schmerz in Zaum zu halten. Seine Fingernägel krallten sich in die Innenflächen seiner Hände, bis Blut hervortrat.
Jetzt war er kein reicher Mann mehr, der nach einem langen Abenteuer in den Frieden seines Heimes zurückkehrte. Er war auch kein Held, der Abdul-el-Kebir den Händen seiner Feinde entrissen, mit ihm das infernalische »Land der Leere« durchquert und ihn jenseits der Landesgrenze in Sicherheit gebracht hatte. Nein, jetzt war er nur noch ein armer Schwachkopf, der das, was er in dieser Welt am meisten liebte, verloren hatte. Er hatte es verspielt, weil er sich wie ein Idiot darauf versteift hatte, ein paar überlebten Wertvorstellungen, die niemandem mehr etwas bedeuteten, Geltung zu verschaffen.
Laila!
Ein Schauer lief ihm wie eiskaltes Wasser über den Rücken, als er sie in seiner Phantasie in der Gewalt jener Männer mit den schmutzigen Uniformen, breiten Ledergürteln und klobigen, übelriechenden Stiefeln sah. Er erinnerte sich noch an ihre Gesichter und sah sie vor sich, wie sie vor dem Eingang seiner khaima gestanden hatten, die Gewehre im Anschlag. Er hatte ihre schlampige Garnison kennengelernt und mit eigenen Augen gesehen, wie tyrannisch sie in El-Akab die Beduinen behandelten. Ein heiseres Schluchzen entrang sich Gacels Kehle, mochte er sich noch so anstrengen, es zu unterdrücken. Es half auch nichts, daß er sich in seiner Verzweiflung mit ganzer Kraft in den Handrücken biß.
»Nein, tu das nicht, halte es nicht zurück! Sogar der stärkste Mann hat das Recht, in einem Augenblick wie diesem zu weinen.«
Er hob den Kopf. Das hübsche Mädchen mit den dünnen Zöpfen hockte neben ihm. Sie streckte die Hand aus und streichelte sein Gesicht, als wäre sie eine Mutter und er ihr verängstigtes Kind.
»Es ist schon vorbei«, sagte er.
Sie schüttelte langsam, aber entschieden den Kopf. »Mir machst du nichts vor. Es ist nicht vorbei… Es ist ganz tief in dir, wie eine Kugel, die steckengeblieben ist. Das weiß ich, seit mein Mann vor zwei Jahren gestorben ist. Nachts, wenn ich schlafe, suchen meine Hände noch immer nach ihm.«
»Aber sie ist nicht tot! Niemand wird es wagen, ihr etwas anzutun!« sagte Gacel beschwörend, als wollte er sich selbst überzeugen. »Sie ist ja fast noch ein Kind! Allah wird nicht zulassen, daß ihr etwas zustößt.«
»Allah ist so, wie wir ihn uns selbst ausmalen«, erwiderte das Mädchen verbittert. »Ob du ihm vertraust oder nicht, ist deine Sache. Schaden kann es nicht. Doch wenn du es geschafft hast, Tikdabra, das Land der Leere , zu besiegen, dann kannst du dir auch deine Familie zurückholen, dessen bin ich mir sicher.«
»Wie soll ich das anstellen?« fragte Gacel verzagt. »Du hast es ja selbst gehört: Sie wollen als Gegenleistung Abdul-el-Kebir, aber er ist nicht mehr bei mir!«
Das Mädchen blickte ihm im Schein des Vollmondes, der schon hoch am Himmel stand und die Nacht fast zum Tag machte, fest in die Augen. »Wärst du denn auf das Tauschgeschäft eingegangen, wenn er noch bei dir wäre?« fragte sie.
»Es geht um meine Söhne! Um meine Frau und um meine Söhne!« antwortete Gacel. »Sie sind das einzige, was ich auf der Welt habe!«
»Nein, du hast auch deinen Stolz als Targi«, erinnerte sie ihn. »Ich kenne dich zwar nicht, aber ich spüre, daß du der Stolzeste und Tapferste von uns allen bist… Vielleicht zu tapfer«, fuhr sie nach kurzem Nachdenken fort. »Wenn ihr Krieger in den Kampf zieht, nehmt ihr euch nie die Zeit, um darüber nachzudenken, wieviel Leid ihr über uns Frauen bringt, die wir zurückbleiben und nur die Schläge abbekommen, ohne an eurem Ruhm teilzuhaben…« Sie schnalzte mit der Zunge, als riefe sie sich selbst zur Ordnung. »Aber ich bin nicht gekommen, um dir Vorwürfe zu machen«, versicherte sie. »Was geschehen ist, ist geschehen, und du hast sicher deine Gründe gehabt. Ich bin gekommen, weil man einen Menschen wie dich in einem solchen Augenblick nicht allein lassen sollte… Möchtest du mir nicht von ihr erzählen?«
Gacel schüttelte den Kopf. »Sie war noch so jung, fast ein Kind!« schluchzte er.
Mit einem Knall flog die Tür auf. Sergeant Malik-el-Haideri sprang aus dem Bett und griff nach der Pistole, die auf dem Nachttisch lag. Aber dann erkannte er die Silhouette von Leutnant Rahman, die sich im grellen Gegenlicht abzeichnete.
Halbnackt wie er war, bemühte sich Malik dennoch, eine einigermaßen militärische Haltung anzunehmen. Er stand stramm, salutierte und versuchte sogar, die Hacken zusammenzuschlagen, was ziemlich lächerlich wirkte. Der Gesichtsausdruck des Leutnants zeigte sehr deutlich, daß er überhaupt nicht in der Stimmung war, um die Komik der Situation wahrzunehmen. Sobald sich die Augen des Leutnants an die im Zimmer herrschende Dämmerung gewöhnt hatten, trat er an eines der Fenster, öffnete die Läden und zeigte mit seiner Reitgerte auf eine große Baracke ganz in der Nähe.
»Was sind das für Leute, die dort eingesperrt sind, Sergeant?« fragte er.
Malik spürte, wie ihm schlagartig am ganzen Körper der kalte Schweiß ausbrach.
Er bemühte sich jedoch, Haltung zu bewahren, und erwiderte: »Die Familie des Targi, Herr Leutnant.«
»Wie lange sind diese Leute schon hier?«
»Seit einer Woche.«
Rahman glaubte seinen eigenen Ohren nicht trauen zu können. Er fuhr herum und wiederholte entsetzt: »Eine Woche? Wollen Sie mir weismachen, Sie hätten eine Woche lang Frauen und Kinder in dieser höllischen Hitze schmoren lassen, ohne Ihren Vorgesetzten Bericht zu erstatten?«
»Das Funkgerät ist kaputt.«
»Sie lügen! Ich habe gerade mit dem Funker gesprochen! Sie selbst haben ihm Befehl gegeben, sich nicht zu melden. Deshalb konnte ich auch mein Kommen nicht ankündigen.«
Rahman verstummte plötzlich. Sein Blick war auf Laila gefallen, die splitternackt und verängstigt in der hintersten Ecke des Zimmers hockte. Dort lag auch eine schäbige Decke, auf der sie offenbar geschlafen hatte. Rahman blickte ein paarmal zwischen ihr und Malik hin und her, dann fragte er zögernd: »Wer ist das?«
»Die Frau von diesem Targi… Aber es ist nicht so, wie Sie glauben, Herr Leutnant!« beeilte sich Malik hinzuzufügen. »Es ist ganz anders, sie hat es freiwillig getan, wirklich!« Dabei breitete er beschwörend die Arme aus.
Leutnant Rahman trat zu Laila, die ihre Blöße mit einem Zipfel der Decke zu verbergen suchte. »Stimmt es, daß er dich nicht gezwungen hat?« fragte er. »Hast du es wirklich freiwillig getan?«
Die Targia blickte ihn lange starr an, dann wandte sie sich dem Sergeanten zu und erwiderte mit fester Stimme: »Der da hat gesagt, er würde die Kinder an die Soldaten ausliefern, wenn ich mich sträube.«
Leutnant Rahman nickte wortlos. Dann wies er auf die Tür und befahl Malik: »Raus!«
Der Sergeant wollte nach seiner Kleidung greifen, aber der Leutnant kam ihm zuvor. »Nein, diese Uniform sollen Sie nicht noch einmal besudeln! Raus! So, wie Sie sind!«
Sergeant Malik-el-Haideri tat, wie ihm geheißen. Rahman ging hinterher, aber auf der Türschwelle blieb er stehen. Er sah sich der gesamten Besatzung des Lagers gegenüber. Auch seine eigene Frau und der hünenhafte Sergeant Ajamuk waren gekommen. Sie alle blickten Rahman erwartungsvoll an.
»Gehen Sie zu den Dünen!« befahl er.
Malik gehorchte, obwohl der glühend heiße Sand ihm die Fußsohlen verbrannte.
Wortlos setzte er sich in Bewegung. Den Kopf hielt er gesenkt. Er blickte sich kein einziges Mal um. So gelangte er bis zum Fuß der Dünen. Viel weiter würde er nicht kommen, das war ihm klar.
Deshalb machte er nicht einmal den Versuch, den sandigen Abhang hinaufzuklettern, sondern drehte sich um. Es schien ihn nicht zu überraschen, daß der Leutnant seine schwere Dienstpistole aus dem Futteral gezogen hatte.
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