Sogleich bedauerte ich es. Ihre Augen begannen umherzuschweifen, und ihre Stimme wurde weniger sicher: »Irgendwie kann ich nicht daran arbeiten«, sagte sie. »Jedes Mal, wenn ich es versuche, rege ich mich nur auf. Und die Anrufe meines Agenten habe ich gar nicht entgegengenommen. Der Ärmste. Bestimmt hält er mich für verrückt.« Ich bemerkte, man wisse ja von Autoren, dass sie exzentrisch seien, daher sei es unwahrscheinlich, dass ihr Agent besonders beunruhigt sei, dann wollte ich das Thema wechseln, doch sie ließ es nicht zu. »Es hilft mir nicht mehr«, sagte sie. »Es hat mir immer geholfen, das Schreiben, wenn etwas rausmusste, was in mir festsaß. Aber ich krieg’s nicht mehr raus. Es zieht mich hinein, verstehst du? Ich grüble darüber nach, statt darüber zu schreiben.« Ich versuchte die Frage zu unterdrücken, was mit es gemeint sei – ob ich glaubte, es würde sie aufwühlen oder vielmehr mich, weiß ich jetzt nicht mehr –, aber ich schaffte es nicht. »Es geht darum, ob noch etwas übrig ist«, erklärte sie, plötzlich beunruhigend gefasst, »oder ob alles schon passiert ist.«
Wie kann ich Ihnen beschreiben, Sir, wie sehr ihre Worte mich mit Sorge erfüllten? Sie wandte den Blick ab, und ich sah, wie sie sich in sich zurückzog. Ich legte meine Hand neben ihre in der Hoffnung, sie, wie schon zahllose Male zuvor, aus ihren Gedanken zu locken. Ich sah, wie unsere Haut – meine gesund und braun, ihre ein fahles Weiß – durch eine Entfernung, nicht größer als die Breite eines Verlobungsrings, getrennt war, doch sie nahm mich gar nicht wahr. Ich wartete, dass meine Nähe sich ihr mitteilte; so verging eine Minute. Dann zog sie ihre Hand weg und legte sie, ohne auch nur in meine Richtung zu schauen, über die andere in ihren Schoß.
Als kurz darauf Ericas Mutter hereinkam, hatte ich nicht das Gefühl, dass sie etwas unterbräche. Nein, sie verhinderte keineswegs die Fortsetzung eines Gesprächs zwischen ihrer Tochter und mir, sie beendete lediglich meine Störung eines Gesprächs, das Erica mit Chris führte – eines Gesprächs, das auf einer Ebene stattfand, die ich nicht erreichen oder auch nur richtig erkennen konnte. Erica winkte mir zum Abschied, als ich ihr Zimmer verließ, doch sie tat es mit abgewandtem Gesicht, so dass ich ihrem Blick nicht begegnen konnte. Ihre Mutter dankte mir, dass ich gekommen war, und bat mich, mit einem Besuch zu warten, bis Erica sich von selbst meldete. Und damit und mit einem sanften Kuss auf die Wange schloss sie die Fahrstuhltür vor mir, und ich fuhr den Schacht hinab, allein.
Ich kehrte in meine Wohnung zurück und verbrachte die Nacht im Halbdunkel, im Schein der Stadtlichter, der durch meine Fenster hereindrang, und ich fragte mich, so wie ich mich noch Monate später fragte – ja, manchmal noch bis zum heutigen Tag –, wo Ericas Reise hinging. Ich habe nie erfahren, was ihren Verfall auslöste – war es das Trauma des Angriffs auf ihre Stadt? Dass sie ihr Buch auf der Suche nach einem Agenten herumschickte? Waren es die Echos, die unsere gemeinsame Nacht in ihr auslöste? Alles zusammen? Nichts davon? –, aber ich glaube, ich wusste schon damals, dass sie in eine machtvolle Nostalgie verschwand und nur sie selbst bestimmen konnte, ob sie daraus wieder zurückkehrte.
Denn es war klar, dass Erica etwas brauchte, das ich – selbst wenn ich einwilligte, die Rolle eines Mannes zu spielen, der ich nicht war – ihr nicht geben konnte. Sehr wahrscheinlich sehnte sie sich nach ihrer Adoleszenz mit Chris, nach der Zeit, bevor sein Krebs ihr Unbeständigkeit und Sterblichkeit bewusst machte. Vielleicht war die Wirklichkeit ihrer gemeinsamen Zeit tatsächlich so wunderbar gewesen, wie sie sie mir mehr als einmal beschrieben hatte. Vielleicht war ihre Vergangenheit auch desto stärker, weil sie nur in ihrer Vorstellung existierte. Ich wusste nicht, ob ich an die Wahrheit ihrer Liebe glaubte; sie war eben eine Religion, die mich als Bekehrten nicht akzeptierte. Aber ich wusste, dass sie daran glaubte, und ich empfand mich als klein, weil ich ihr nichts von vergleichbarer Pracht bieten konnte.
In dem Jahr sah ich Erica nicht mehr. Thanksgiving wich bald der Dezemberkälte, und jede Woche – jeden Tag – überlegte ich, ob ich sie anrufen sollte, hielt mich aber immer zurück. Ihre Mutter hatte mich ja gebeten, dem Drang zu widerstehen, und vermutlich dachte ich, wenn ich mich ihr in ihrem inneren Kampf aufdrängte, würde ihr das nur schaden. Doch muss ich zugeben, dass meine Motive nicht ausschließlich edel waren; in mir waren mindestens noch Spuren des Zorns und der verletzten Eitelkeit, die den verschmähten Liebhaber kennzeichnen, und diese unwürdigen Empfindungen halfen mir, Abstand zu wahren. Dennoch sorgte ich mich weiter um Ericas Wohlergehen – und verharrte auch in einer gewissen, wahrscheinlich irrationalen Hoffnung –, weshalb die ständige Aufgabe, mich jeglicher Kommunikation zu enthalten, dem Kampf eines Mannes ähnelte, der versucht, sich von einer Sucht zu befreien.
Vielleicht lag es ja an meinem Gemütszustand, aber es schien mir, dass sich zu jener Zeit auch Amerika zunehmend einer gefährlichen Nostalgie ergab. Die Fahnen und Uniformen, die Generäle, die in Kommandozentralen in Kameras sprachen, die Schlagzeilen der Zeitungen mit Begriffen wie Pflicht und Ehre , das alles hatte etwas unbestreitbar Rückwärtsgewandtes. Ich hatte Amerika immer als eine Nation gesehen, die nach vorn schaute; zum ersten Mal fiel mir nun seine Entschlossenheit auf, zurück zuschauen. Das Leben in New York war auf einmal wie in einem Film über den Zweiten Weltkrieg; ich als Ausländer blickte nun auf ein Set, das nicht in Technicolor, sondern in einem grobkörnigen Schwarzweiß betrachtet werden sollte. Wonach sich Ihre Landsleute sehnten, war mir nicht ganz klar – nach einer Zeit unbestrittener Herrschaft? Der Sicherheit? Moralischer Gewissheit? Ich wusste es nicht –, aber dass sie sich danach drängten, die Kostüme einer anderen Ära anzulegen, war offensichtlich. Ich kam mir wie ein Verräter vor, weil ich mich fragte, ob diese Ära fiktiv war und ob sie – wenn sie denn tatsächlich belebt werden konnte – auch eine Rolle bereithielt, die für einen wie mich geschrieben war.
Aber was ist das? Ah, Ihr ungewöhnliches Telefon, das um Ihre Aufmerksamkeit piepst. Nein, Sir, es macht mir nicht das Mindeste aus; tippen Sie ruhig Ihre Antwort. Mir fällt auf, dass Sie mit der Präzision einer alten Kirchenglocke kontaktiert werden, womit ich meine, immer genau zur vollen Stunde – kontrolliert Sie etwa Ihre Firma? Nein, nein, Sie brauchen nichts zu erwidern. Nun, da Ihre Antwort abgeschickt ist, wollen Sie nicht einen Blick auf den Grill werfen, auf den gerade eben unsere entbeinten Hühnerteile zum Rösten gelegt werden? Sehen Sie nur die Funken, wie sie zornig und rot von der Kohle stieben, wenn unser Koch die Flamme anfacht. Ist doch schön anzusehen, oder? Und gleich – da , riechen Sie es? – zieht ein Aroma vorüber, bei dem Ihnen bestimmt das Wasser im Mund zusammenläuft.
Ich hatte Ihnen von der Nostalgie erzählt, die sich zu Beginn des letzten Winters, den ich in Ihrem Land verbringen sollte, in meiner Umgebung so stark ausbreitete. Aber ein rühmliches Bollwerk widerstand diesem Eindruck nach wie vor: Underwood Samson, das mich von früh bis spät ausfüllte und – als Einrichtung – überhaupt nicht nostalgisch war. Bei der Arbeit verfolgten wir die Aufgabe, die Zukunft ohne große Rücksicht auf die Vergangenheit zu gestalten, und meine eigene Effektivität wuchs weiterhin in dem Maße, wie ich mich in das Projekt bei der Kabelfirma vertiefte, wobei ich hoffte, die vielen Sorgen, die mich bedrückten, wenn ich meinen Gedanken freien Lauf lassen konnte, dabei hinter mir zu lassen.
Vermutlich war ich beim Streben nach den Fundamentals nie besser als da; ich analysierte Daten, als hinge mein Leben davon ab. Unser Kredo legte den größten Wert auf maximale Produktivität, und ein solches Kredo war für mich doppelt beruhigend, weil es in Zeiten großer Unsicherheit quantifizierbar – und daher fassbar – war und weil es von der Möglichkeit eines Fortschritts nach wie vor absolut überzeugt war, während andere sich nach einer Art klassischer Periode sehnten, die schon längst vergangen war, wenn es sie überhaupt jemals gegeben hatte. Ich nahm eine Veränderung in meiner Haltung gegenüber den Kollegen wahr, ein größeres Verständnis dafür, was sie veranlasste, sich so total auf ihr Berufsleben zu konzentrieren, und vielleicht lag es daran, dass es eine Zeitlang so aussah, als gehe es mit meiner Beliebtheit im Büro bergauf.
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