Inzwischen hatte ein Observatorium in den entlegenen unteren Regionen ein schwaches Signal ausgesandt, eine zweideutige Botschaft.
Alfred empfing das Signal und fragte sich, was er tun sollte. Er hatte eine Scheu vor Toiletten, neuerdings, aber er konnte ja seine Hosen nicht gut hier im Freien herunterlassen. Möglich, dass die drei Männer jeden Moment zurückkamen.
Hinter einem Schutzgeländer zu seiner Rechten waren mehrere dick lackierte flache und zylinderförmige Gegenstände, zwei sphärische zu Navigationszwecken, ein umgekehrter Kegel. Da er schwindelfrei war, hielt ihn nichts davon ab, die unmissverständliche Warnung in vier Sprachen in den Wind zu schlagen, sich an der Brüstung vorbeizuzwängen und auf die raue Metallfläche hinauszutreten, um sich, sozusagen, einen Baum zu suchen, hinter dem er pinkeln konnte. Er war hoch über allem und nicht zu sehen.
Aber zu spät.
Beide Hosenbeine waren durchnässt, das linke beinahe bis zum Knöchel. Warm-kalte Feuchtigkeit überall.
Und wo an der Küste eine Stadt hätte auftauchen müssen, entfernte sich das Land. Graue Wellen marschierten durch seltsames Gewässer, und das Beben der Maschinen wurde angestrengter, war weniger leicht zu ignorieren. Das Schiff hatte die Gaspe-Halbinsel entweder noch nicht erreicht oder bereits passiert. Die Daten, die er den Männern in den Jacken übermittelt hatte, waren falsch. Er hatte die Orientierung verloren.
Und vom Deck direkt unter ihm trug ihm der Wind ein Kichern zu. Da war es noch einmal, ein trällernder Schrei, eine nordische Lerche.
Er rückte langsam von den Kugeln und Zylindern ab und beugte sich über die äußere Reling. Ein paar Meter weiter achtern war eine kleine «nordische» Sonnenbadezone, versteckt hinter einem Zedernholzzaun, und ein Mann, der dort stand, wo kein Passagier stehen durfte, konnte über den Zaun schauen und Signe Söderblad erblicken, ihre gänsehäutigen Arme und Schenkel, ihren Bauch, die zwei drallen Brombeeren, zu denen ein plötzlich grauer Winterhimmel ihre Brustwarzen zusammengezogen hatte, das zitternde rötlich braune Fell zwischen ihren Beinen.
Die Tagwelt schwamm auf der Nachtwelt, und die Nachtwelt versuchte, die Tagwelt zu überschwemmen, und Alfred mühte und mühte sich, dafür zu sorgen, dass die Tagwelt wasserdicht blieb. Doch ein schlimmer Riss hatte sich aufgetan.
Herauf zog eine weitere Wolke, größer, dichter, und machte den Abgrund unter ihm grünlich schwarz. Kollision von Schiff und Schatten.
Und Scham und Verzweiflung. Oder war es der Wind, der in das Segel seines Regenmantels griff?
Oder war es das Krängen des Schiffs?
Oder der Tremor in seinen Beinen?
Oder der korrespondierende Tremor der Maschinen?
Oder ein Ohnmachtsanfall?
Oder die ewig lockende Tiefe?
Oder die relative Wärme, mit der das Wasser jemanden einlud, der durchnässt und frierend im Wind stand?
Oder lehnte er sich absichtlich weiter vor, um noch einmal den rötlich braunen Schamhügel zu sehen?
«Wie passend es doch ist», sagte der international renommierte Anlageberater Jim Crolius, «auf einer Luxus-Herbstfarben-Kreuzfahrt der Nordic Pleasurelines über Geld zu reden. Herrschaften, ist heute nicht ein phantastisch sonniger Tag?»
Crolius stand an einem Rednerpult neben einer Tafel, auf der in roter Schrift der Titel seines Vortrags — «Wie man die Korrekturen überlebt» — zu lesen war. In den vorderen Reihen, wo jene saßen, die früh erschienen waren, um sich gute Plätze zu sichern, wurde zustimmendes Gemurmel laut. Irgendjemand sagte sogar: «Ja, Jim!»
Enid ging es heute Morgen um so vieles besser, aber ein paar atmosphärische Störungen machten sich in ihrem Kopf noch bemerkbar, eine Gewitterfront zum Beispiel, bestehend aus a) Groll gegen die Frauen, die lächerlich früh in den Langstrumpf-Ballsaal gekommen waren, als würde die potenzielle Lukrativität der Ratschläge, die Jim Crolius gab, mit wachsender Entfernung zu ihm abnehmen; b) besonderem Groll gegen den Typus aufdringliche New Yorkerin, die sich an allen anderen vorbeidrängelte, um mit einem Referenten von Anfang an per du zu sein (sie war sicher, dass Jim Crolius die Anmaßung und hohlen Schmeicheleien solcher Frauen sofort durchschaute, aber vielleicht war er zu höflich, sie zu übergehen und sein Augenmerk auf die weniger aufdringlichen, achtbareren Frauen aus dem Mittelwesten wie Enid zu richten); und c) heftigem Ärger auf Alfred, der auf dem Weg zum Frühstück zweimal eine Toilette aufgesucht hatte, sodass sie den Kierkegaard-Saal nicht beizeiten hatte verlassen können, um selbst einen guten Platz in den vorderen Reihen zu ergattern.
Aber die Gewitterfront verschwand beinahe so schnell, wie sie aufgezogen war, und schon strahlte wieder die Sonne.
«Also, ich will kein Spielverderber sein», sagte Jim Crolius gerade, «aber von hier, wo ich stehe, hier vorn bei den Fenstern, sehe ich ein paar Wolken am Horizont. Es könnten freundliche weiße Wölkchen sein. Oder aber dunkle Regenwolken. Womöglich trügt der Schein! Von hier aus könnte ich meinen, dass wir auf sicherem Kurs sind, aber ich bin kein Experte. Ich könnte das Schiff direkt auf ein Riff steuern. Also, auf einem Schiff ohne Kapitän würden Sie nicht gern fahren, oder? Ohne einen Kapitän, der die Karten und Instrumente hat, die Glocken und Apparate, das ganze Drum und Dran. Stimmt's? Wir haben das Radar, wir haben das Sonar, wir haben das GPS.» Jim Crolius zählte jedes Instrument an seinen Fingern ab. «Wir haben unsere Satelliten da oben im Weltraum! Alles hoch technisiert. Aber irgendjemand muss mit diesen Informationen ja umgehen können, sonst würden wir alle in ziemliche Schwierigkeiten geraten. Stimmt's? Das da ist ein tiefer Ozean. Es geht um Ihr Leben. Ich will damit sagen, dass Sie froh sein können, wenn Sie den ganzen technischen Kram nicht persönlich beherrschen müssen, all die Glocken und Apparate, das ganze Drum und Dran. Besser ist es, Sie verlassen sich auf einen guten Kapitän, wenn Sie auf der hohen See der Hochfinanz kreuzen.»
Applaus in den vorderen Reihen.
«Der muss wirklich denken, wir wären acht Jahre alt», flüsterte Sylvia Roth Enid zu.
«Das ist bloß seine Einführung», flüsterte Enid zurück.
«Nun, noch etwas anderes ist passend», fuhr Jim Crolius fort. «Wir alle sind hier, um das herbstliche Farbenspiel der Blätter zu betrachten. Das Jahr hat seine Rhythmen — Winter, Frühling, Sommer, Herbst. Das Ganze läuft zyklisch ab. Da sind die Aufschwünge im Frühling, da sind die Abschwünge im Herbst. Genau wie am Markt. Zyklische Angelegenheit, stimmt's? Sie können über fünf, zehn oder sogar fünfzehn Jahre einen stabilen Markt haben. Hat's ja in unserer Zeit schon gegeben. Aber wir haben auch Korrekturen erlebt. Kann sein, dass ich wie ein junger Spund aussehe, aber ich habe bereits einen regelrechten Markteinbruch miterlebt. Ganz schön unheimlich. Zyklische Angelegenheit. Herrschaften, im Moment haben wir da draußen jede Menge Grün. Es war ein langer, glorreicher Sommer. Ja, kommen Sie, lassen Sie mich ein paar Handzeichen sehen: Wie viele von Ihnen bestreiten diese Kreuzfahrt, sei es ganz oder zum Teil, von Investitionserträgen?»
Ein Wald emporgereckter Hände.
Jim Crolius nickte zufrieden. «Nun, meine Herrschaften, ich will kein Spielverderber sein, aber die Blätter beginnen sich zu verfärben. Egal, wie grün die Dinge im Augenblick für Sie sind, den Winter überdauern sie nicht. Klar, jedes Jahr ist anders, jeder Zyklus ist anders. Man weiß nie genau, wann das Grün sich verfärbt. Aber wir sind hier, und zwar jeder Einzelne von uns, weil wir vorausschauende Menschen sind. Jeder von Ihnen hat mir allein durch seine Anwesenheit bewiesen, dass er ein kluger Investor ist. Wissen Sie, warum? Weil es noch Sommer war, als Sie zu Hause losgefahren sind. Jeder hier im Raum war vorausschauend genug zu wissen, dass sich auf dieser Kreuzfahrt etwas verändern wird. Und die Frage, die wir uns alle stellen — ich spreche hier metaphorisch — , ist die: Wird all das prachtvolle Grün da draußen zu prachtvollem Gold werden? Oder wird es, im Winter unseres Missvergnügens, am Zweig verwelken?»
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