Der Arzt entfesselte ein besonders liebreizendes Lächeln, und Enid, die sich ausrechnete, dass er pro Gespräch einen Reingewinn von $ 62 erzielte, fand, dass sie nun für ihr Geld genug von seiner Zeit und Aufmerksamkeit bekommen hatte, und sie tat, wozu sie im Grunde entschlossen war, seit ihr Blick zum ersten Mal auf die sonnigen, die löwenköpfigen Kapseln gefallen war. Sie griff in ihre Handtasche, nahm ein Bündel Bargeld aus dem Pleasurelines-Kuvert, in dem ihre Spielgewinne steckten, und zählte $ 150 ab.
«Viel Zeitvertreib von dem Löwen», sagte Hibbard mit einem Augenzwinkern, als er den Stapel unverkäuflicher Muster über seinen Schreibtisch schob. «Brauchen Sie eine Tüte?»
Mit klopfendem Herzen trat Enid den Rückweg zum «B»- Deck an. Nach dem Albtraum des vergangenen Tages und der letzten beiden Nächte hatte sie nun wieder etwas, auf das sie sich freuen konnte; und wie süß die Zuversicht einer Frau, die ein eben ergattertes Mittel bei sich trägt, das ihr Denken zu wandeln verheißt; wie universal die Sehnsucht, den Gegebenheiten des Selbst zu entfliehen. Keine größere Anstrengung, als die Hand zum Mund zu führen, kein gewaltigerer Akt, als zu schlucken, kein religiöses Gefühl, kein Glaube an etwas anderes, Mystischeres als Ursache und Wirkung — nichts von alledem war nötig, um die umwälzenden Segnungen dieser Pille zu erfahren. Sie konnte es nicht erwarten, sie einzunehmen. Den ganzen Weg bis zur B11 ging sie wie auf Wolken. Glücklicherweise war dort von Alfred keine Spur. Als wolle sie dem Verbotenen ihres Vorhabens Rechnung tragen, schob sie den Riegel vor die Außentür. Schloss sich, darüber hinaus, im Badezimmer ein. Hob die Augen zu deren gespiegelten Zwillingen empor und erwiderte in einem feierlichen Impuls ihren Blick, wie sie es seit Monaten oder vielleicht Jahren nicht mehr getan hatte. Drückte eine goldene Aslan durch die Folie auf der Rückseite eines der unverkäuflichen Muster. Legte sie sich auf die Zunge und spülte sie mit Wasser hinunter.
Ein paar Minuten lang hantierte sie mit Zahnbürste und Zahnseide, ein bisschen Hausarbeit im Mund, damit die Zeit verstrich. Dann stieg sie, mit einem Schauder aufwogender Müdigkeit, in ihre Koje, um zu warten.
Goldenes Sonnenlicht fiel auf die Bettdecken im fensterlosen Raum.
Er rieb seine warme Samtschnauze an ihrem Handgelenk. Er leckte ihre Augenlider mit einer sandpapierenen, zugleich glatten Zunge. Sein Atem war süß und beißend.
Als sie aufwachte, war das kühle Halogenlicht in der Kabine nicht mehr künstlich. Es war das kühle Leuchten der hinter einer flüchtigen Wolke verborgenen Sonne.
Ich habe das Medikament genommen, sagte sie sich. Ich habe das Medikament genommen. Ich habe das Medikament genommen.
Ihre neue emotionale Flexibilität wurde am nächsten Morgen auf eine harte Probe gestellt, als sie um sieben aufstand und sah, dass Alfred sich in der Duschkabine zusammengerollt hatte und tief und fest schlief.
«Al, du liegst in der Dusche», sagte sie. «Da schläft man nicht.»
Sie begann sich die Zähne zu putzen. Alfred öffnete von Wahnsinn ungetrübte Augen und machte eine Bestandsaufnahme. «Ah, bin ich steif», sagte er.
«Was um Himmels willen tust du da?», gluckste Enid, den Mund voller Fluoridschaum, während sie fröhlich vor sich hin putzte.
«Bin heute Nacht ganz durcheinander gewesen», sagte er. «Hatte so seltsame Träume.»
Sie merkte, dass sie in Aslans Armen neue Reserven der Geduld für den handgelenkstrapazierenden Witsch-Watsch- Bürstenstrich entdeckte, den ihr Zahnarzt ihr für die Seiten der Backenzähne angeraten hatte. Mit geringem bis mittlerem Interesse sah sie zu, wie Alfred über einen mehrstufigen Prozess des Sichaufstützens, — hochstemmens, — aufrappelns, — anspannens und Kontrolliert-nach-vorne-Kippens in die aufrechte Position gelangte. Ein irrwitziger Dhoti aus zerknüllten und zerfledderten Windeln hing ihm von den Lenden. «Nun guck dir das mal an», sagte er kopfschüttelnd. «Würdest du dir das bitte mal angucken.»
«Ich habe die ganze Nacht herrlich geschlafen», antwortete sie.
«Und wie geht es unseren Flottierern heute Morgen?», fragte die fliegende Programmkoordinatorin Suzy Ghosh mit einer Stimme, die wie Haar in einer Shampoo-Werbung war, in die Runde.
«Jedenfalls sind wir gestern Nacht nicht untergegangen, falls Sie das meinen», sagte Sylvia Roth.
Die Norweger nahmen Suzy sofort in Beschlag und unterzogen sie einer komplizierten Befragung zum Bahnenschwimmen im größeren der beiden Pools auf der Gunnar Myrdal.
«Sieh an, sieh an, Signe», sagte Mr. Söderblad indiskret laut zu seiner Frau, «das ist ja eine Überraschung. Die Nygrens haben heute Morgen eine längere Frage an Miss Ghosh.»
«Ja, Stig, sie scheinen eigentlich immer eine längere Frage zu haben, nicht wahr? Sie sind sehr gründlich, unsere Nygrens.»
Ted Roth drehte eine halbe Pampelmuse wie ein Töpfer und kratzte dabei das Fruchtfleisch heraus. «Die Geschichte des Kohlenstoffs», sagte er, «ist die Geschichte des Planeten. Wissen Sie über den Treibhauseffekt Bescheid?»
«Sie sind dreifach steuerfrei», sagte Enid.
Alfred nickte. «Ja, ich weiß über den Treibhauseffekt Bescheid.»
«Man muss die Rabattmarken aber auch wirklich abschneiden, das vergesse ich manchmal», sagte Enid.
«Vor vier Milliarden Jahren war die Erde sehr heiß», sagte Dr. Roth. «An Atmen nicht zu denken. Methan, Kohlendioxyd, Wasserstoffsulfid.»
«In unserem Alter ist ein regelmäßiges Einkommen natürlich wichtiger als Kapitalzuwachs.»
«Die Natur hatte noch nicht gelernt, Cellulose aufzuspalten. Wenn ein Baum umfiel, lag er auf dem Boden und wurde vom nächsten Baum, der umfiel, begraben. Das war das Karbon. Die Erde eine einzige verschwenderische Orgie. Und im Laufe von Millionen und Abermillionen von Jahren, in denen Bäume auf Bäume fielen, wurde der Luft fast der gesamte Kohlenstoff entzogen und anschließend begraben. Und dort, unter der Erde, ist er, geologisch gesprochen, bis gestern geblieben.»
«Bahnenschwimmen, Signe. Glaubst du, man kann dabei auch auf die schiefe Bahn kommen?»
«Manche Menschen sind einfach unausstehlich», sagte Mrs. Nygren.
«Wenn heute ein Baumstamm umfällt, wird er von Pilzen und Mikroben zersetzt, und der ganze Kohlenstoff gelangt wieder in die Luft. Ein Karbon kann es nie wieder geben. Nie. Weil man die Natur nicht bitten kann zu verlernen, wie Cellulose abgebaut wird.»
«Es heißt jetzt Orfic Midland», sagte Enid.
«Säugetiere gibt es erst, seit die Welt sich abgekühlt hat. Frost auf dem Kürbis. Pelzige Wesen in Höhlen. Bloß jetzt haben wir da ein sehr cleveres Säugetier, das allen Kohlenstoff wieder aus der Erde holt und ihn in die Atmosphäre zurückschleust.»
«Ich glaube, wir besitzen sogar ein paar Aktien von Orfic Midland», sagte Sylvia.
«In der Tat», sagte Per Nygren, «besitzen auch wir Orfic- Midland-Aktien.»
«Per muss es wissen», sagte Mrs. Nygren.
«Daran habe ich keinen Zweifel», sagte Mr. Söderblad.
«Wenn wir erst mal alle Kohle-, Öl- und Gasvorräte verbrannt haben», sagte Dr. Roth, «werden wir die alte Atmosphäre wiederbekommen. Eine heiße, garstige Atmosphäre, wie es sie seit dreihundert Millionen Jahren nicht mehr gegeben hat. Wenn wir den Kohlenstoffgeist erst mal aus seiner mineralischen Flasche gelassen haben.»
«Norwegen hat ein hervorragendes Rentenversicherungssystem, ähm, aber trotzdem ergänzen wir unseren staatlichen Versicherungsschutz durch einen privaten Fonds. Jeden Morgen überprüft Per den Wert jeder einzelnen Aktie, die dazugehört. Sind eine ganze Menge amerikanischer Aktien darunter. Wie viele, Per?»
«Im Augenblick sechsundvierzig», sagte Per Nygren. «Wenn ich mich nicht irre, ist ‹Orfic› ein Akronym, gebildet aus Oak Ridge Fiduciary Investment Corporation. Die Aktie hat ihren Wert ziemlich stabil gehalten und wirft eine hübsche Dividende ab.»
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