«Sie romantisieren die Armut.»
«Wie bitte?»
«Wir waren in Bulgarien», sagte Alfred. «Usbekistan kenne ich nicht, aber in China waren wir auch. Soweit ich es von der Eisenbahn aus sehen konnte, würde ich — also, wenn es nach mir ginge, würde ich alles abreißen. Abreißen und noch mal von vorn anfangen. Die Häuser müssen nicht hübsch sein, nur solide. Sanitäre Anlagen rein in die Häuser. Eine vernünftige Betonmauer und ein Dach, das nicht leckt — das ist es, was die Menschen dort brauchen. Kanalisation. Schauen Sie sich die Deutschen an, wie die alles wieder aufgebaut haben. Geradezu vorbildlich.»
«Würde allerdings nicht so gern Fisch aus dem Rhein essen. Falls man überhaupt welchen darin findet.»
«Das ist alles Umweltschützer-Geschwafel.»
«Alfred, Sie sind ein zu kluger Mann, um das Geschwafel zu nennen.»
«Ich muss jetzt mal verschwinden.»
«Al, wenn du fertig bist, nimm doch ein Buch mit nach draußen und lies ein bisschen. Sylvia und ich hören uns den Investment-Vortrag an. Setz du dich einfach irgendwo hin. In die Sonne. Und entspann dich, hörst du, entspann dich.»
Er hatte gute Tage und schlechte Tage. Es war, als flössen, wenn er eine Nacht im Bett verbrachte, bestimmte Körpersäfte, wie die Säfte einer Marinade, in die man ein Hüftsteak legt, an die richtigen oder falschen Stellen und als hätten seine Nervenenden am Morgen entweder genug von dem, was sie brauchten, oder eben nicht; als hinge seine geistige Klarheit von etwas so Banalem ab wie davon, ob er in der vergangenen Nacht auf der Seite oder auf dem Rücken gelegen hatte; oder, beunruhigender noch, als wäre er ein beschädigtes Transistorradio, das nach heftigem Schütteln entweder wieder laut und deutlich funktionierte oder nichts als statisches Rauschen ausspuckte, durchbrochen von Satzfetzen und gelegentlichen Takten Musik.
Trotzdem, noch der schlimmste Morgen war besser als die beste Nacht. Am Morgen beschleunigten sich alle Prozesse und katapultierten Alfreds Medikamente an ihre Bestimmungsorte: das kanariengelbe spindelförmige Ding gegen Inkontinenz, die kleine runde rosafarbene Kugel gegen das Zittern, das weiße Oval gegen Übelkeit, die blassblaue Tablette zur Bekämpfung der Halluzinationen, die von der kleinen runden rosafarbenen Kugel kamen. Am Morgen herrschte in seinem Blut dichter Pendlerverkehr,
Glukoseboten, Lakto- und Urinhygienespezialisten, Hämoglobinspediteure, die in ihren zerdellten Lieferwagen Mengen frisch aufbereiteten Sauerstoffs transportierten, unerbittliche Vorarbeiter wie das Insulin, das enzymische mittlere Management und die leitenden Epinephrine, Leukozytenpolizisten und Notfallwagenteams, teure Berater, die in ihren rosafarbenen und weißen und kanariengelben Limousinen herbeigefahren kamen, den Aorta-Fahrstuhl nahmen und über die Arterien ausschwärmten. Vor zwölf Uhr am Mittag war die Quote der Arbeitsunfälle gering. Die Welt war neugeboren.
Er hatte Schwung. Vom Kierkegaard-Saal aus schwankte er federnden Schritts einen mit rotem Teppich ausgelegten Gang entlang, der ihm schon einmal mit einem stillen Örtchen aufgewartet hatte, doch heute Morgen schien hier alle Welt Geschäfte zu machen, kein H oder D in Sicht, nur Frisörsalons und Boutiquen und das Ingmar-Bergman-Kino. Das Problem war, dass er sich nicht mehr darauf verlassen konnte, ob sein Nervensystem die Dringlichkeit seines Austretenmüssens richtig einschätzte. In der Nacht löste er es, indem er einen Schutz trug, am Tage, indem er stündlich eine Toilette aufsuchte und stets seinen alten schwarzen Regenmantel bei sich hatte, für den Fall, dass er einmal ein Missgeschick verbergen musste. Ein weiterer Vorzug des Regenmantels war, dass er Enids romantische Gefühle verletzte, ein weiterer Vorzug der stündlichen Gänge zur Toilette, dass sie seinem Leben eine Struktur gaben. Lediglich alles im Griff zu behalten — lediglich den Ozean der nächtlichen Schrecken daran zu hindern, dass er auch das letzte Schott durchbrach — , das war jetzt sein ganzes Streben.
Unzählige Frauen strömten in Richtung Langstrumpf-Ballsaal. Ein starker Strudel trieb Alfred in einen Gang, an dem die Kabinen der mitreisenden Referenten und Entertainer lagen. Am Ende des Gangs winkte ein Herren-WC.
Ein Offizier mit Epauletten stand vor einem der beiden Urinbecken. Aus Furcht, unter Beobachtung zu versagen, betrat Alfred eine Toilettenkabine, schob den Riegel vor und fand sich einer Kloschüssel gegenüber, die unter Kotbeschuss genommen worden war, glücklicherweise aber nichts erzählte, sondern nur stank. Er ging wieder hinaus und probierte es mit der nächsten, doch hier huschte etwas über den Boden — ein wendiger Scheißhaufen, der in Deckung ging — , und er wagte nicht einzutreten. Inzwischen hatte der Offizier gespült, und als er sich zu ihm umwandte, erkannte Alfred die blauen Wangen und rosa getönten Brillengläser und vulvapinken Lippen wieder. Aus seinem noch geöffneten Reißverschluss hingen zwanzig Zentimeter oder mehr eines schlaffen braunen Rohrs. Ein gelbes Grinsen tat sich zwischen seinen blauen Wangen auf. Er sagte: «Ich habe eine kleine Kostbarkeit in Ihrem Bett hinterlegt, Mr. Lambert. Anstelle derer, die ich mitgenommen habe.»
Alfred taumelte aus der Toilette und floh die Treppen hinauf, höher und höher, sieben Stockwerke hoch, bis zum Sportdeck unter freiem Himmel. Hier fand er eine Bank in heißem Sonnenschein. Er zog eine Karte von Kanadas Küstenprovinzen aus der Tasche seines Regenmantels und versuchte, seine Position im Gitternetz zu bestimmen, ein paar Landmarken auszumachen.
Drei alte Männer in Gore-Tex-Jacken standen an der Reling.
Ihre Stimmen waren in einem Augenblick unhörbar, im nächsten vollkommen klar. Der Wind schien in seiner veränderlichen Masse Luftlöcher zu haben, kleine Räume der Stille, durch die der eine oder andere Satz schlüpfen konnte.
«Da ist jemand mit einer Karte», sagte einer der Männer. Er kam zu Alfred herüber und sah so glücklich aus wie alle Männer auf der Welt, außer Alfred. «Entschuldigen Sie, Sir. Was, meinen Sie, sieht man da vorn zu unserer Linken?»
«Das ist die Gaspe-Halbinsel», antwortete Alfred entschieden.
«Dahinter müsste eigentlich gleich eine große Stadt auftauchen.»
«Danke vielmals.»
Der Mann kehrte zu seinen Kameraden zurück. Als wäre die Position des Schiffs für sie von großer Bedeutung, als hätte sie überhaupt nur das Verlangen nach dieser Information auf das Sportdeck geführt, machten sich alle drei unverzüglich auf den Weg nach unten und ließen Alfred ganz oben auf der Welt allein. Der schützende Himmel war dünner in diesen Breiten nördlichen Gewässers. Wolken zogen gemeinschaftlich ihre Bahnen, an Furchen auf einem Feld erinnernd, und glitten unter der umschließenden Kuppel des auffallend niedrigen Himmels dahin. Man kam hier Ultima Thule nahe. Alles Grüne hatte eine rote Korona. Den Wäldern, die sich im Westen bis an die Grenze des Sichtbaren erstreckten, auch dem ziellosen Davoneilen der Wolken und der übernatürlichen Klarheit der Luft haftete nichts Irdisches an.
Seltsam, das Unendliche ausgerechnet in einer endlichen Krümmung, das Ewige ausgerechnet im jahreszeitlich Bedingten aufscheinen zu sehen.
Alfred hatte in dem blauwangigen Mann aus der Herrentoilette den Mann von der Abteilung Signale wiedererkannt, den personifizierten Verrat. Doch der blauwangige Mann von der Abteilung Signale konnte sich unmöglich eine Luxuskreuzfahrt leisten, und das beunruhigte Alfred. Der blauwangige Mann kam aus ferner Vergangenheit, sprach und handelte aber in der Gegenwart, und der Scheißhaufen war ein Geschöpf der Nacht, lief aber am helllichten Tag herum, und das beunruhigte Alfred sehr.
Ted Roth zufolge bildeten sich die Löcher in der Ozonschicht zuerst an den Polen. In der langen arktischen Nacht gab die Erdhülle zuerst nach, doch sobald sie porös geworden war, breitete sich der Schaden aus, griff sogar auf die sonnigen Tropen über — sogar auf den Äquator — , und schon bald war kein Fleck auf dem Erdball mehr sicher.
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