Caroline sprach mit der ruhigen, leisen, zitternden Stimme der offen Misshandelten. «Ist ja gut, Gary, ist gut», sagte sie, «dann lass uns bitte einfach in Ruhe zu Ende essen. Bitte geh einfach.»
Gary ging. Er stürmte hinaus und lief durch den Garten. Im Licht, das nach draußen fiel, war das ganze Laub in der Nähe des Hauses kalkig, doch das Zwielicht in den westlichen Bäumen reichte noch aus, sie in Silhouetten zu verwandeln. In der Garage nahm er die zweieinhalb Meter lange Leiter von ihrer Halterung und tänzelte und drehte sich mit ihr im Kreis, wobei er beinahe die Windschutzscheibe des Stompers zertrümmerte, bevor er wieder alles unter Kontrolle hatte. Dann schleppte er die Leiter ums Haus herum nach vorn, machte Licht und ging zurück, um die elektrische Heckenschere und das Dreißig-Meter-Verlängerungskabel zu holen. Damit das schmutzige Kabel nicht mit seinem teuren Leinenhemd in Berührung kam, das er, wie er erst jetzt bemerkte, noch anhatte, ließ er das Kabel hinter sich herschleifen, wo es sich zerstörerisch in den Blumen verhedderte. Er zog sich bis aufs T- Shirt aus, nahm sich aber nicht die Zeit, die Hose zu wechseln, weil er fürchtete, er könnte den Schwung verlieren, sich auf den noch tagheißen Rasen legen und den Grillen und ratschenden Zikaden lauschen und einnicken. Die anhaltende körperliche Betätigung machte seinen Kopf wieder einigermaßen klar. Er stieg auf die Leiter, beugte sich, so weit er wagte, vor und schnitt die limonengrünen abstehenden Spitzen von den Eibenzweigen. Als er merkte, dass er etwa dreißig Zentimeter Hecke direkt am Haus so nicht erreichte, hätte er wahrscheinlich die Heckenschere ausstellen und hinuntersteigen und die Leiter dichter heranrücken sollen, aber da es nur dreißig Zentimeter waren und er nicht über endlose Reserven an Kraft und Geduld verfügte, versuchte er, auf der Leiter zum Haus zu laufen, quasi ihre Holme zu schwingen und mit ihr zu hüpfen, während er mit der linken Hand die surrende Heckenschere fest umklammert hielt.
Der leichte Schlag, ein nahezu schmerzloser Stoß oder Stups, den er dabei dem fleischigen rechten Daumenballen verpasste, hatte ihm, wie sich bei näherer Betrachtung erwies, ein tiefes, stark blutendes Loch eingetragen, das sich in der besten aller möglichen Welten ein Notarzt angesehen hätte. Doch wenn man von Gary eines sagen konnte, dann das: Er war pflichtbewusst. Er hatte eindeutig zu viel getrunken, um selbst zur Chestnut- Hill-Klinik zu fahren, da machte er sich nichts vor, und Caroline konnte er nicht bitten, ihn dorthin zu bringen, ohne dass er eine peinliche Befragung riskierte, warum er beschlossen habe, in betrunkenem Zustand auf eine Leiter zu steigen und mit einem elektrischen Gerät zu hantieren, zumal er dann auch noch zugeben müsste, wie viel Wodka er vor dem Essen getrunken hatte, und, ganz allgemein, das Gegenteil von jenem Eindruck «guter seelischer Verfassung» hinterlassen würde, den er eigentlich hatte vermitteln wollen, als er sich anschickte, die Hecke zu schneiden. Während also ein Schwarm stechlustiger und Stoffe fressender Insekten, von den Lampen auf der Veranda angezogen, zur Haustür hereinflog, die Gary hinter sich zuzutreten versäumt hatte, als er, mit beiden Händen sein seltsam kühles Blut auffangend, hineingerannt war, verschwand er im unteren Badezimmer und ließ das Blut, in dessen eisenhaltigen Strudeln er Granatapfelsaft oder Schokoladensirup oder dreckiges Motoröl sah, ins Waschbecken laufen. Er hielt den Schnitt unter kaltes Wasser. Jenseits der nicht versperrten Tür hörte er Jonah fragen, ob er sich verletzt habe. Gary knüllte mit der linken Hand einen Bausch Klopapier zusammen, drückte ihn auf die Wunde und klebte einhändig ein Plastikpflaster darauf, das sich durch das Blut und Wasser sofort wieder löste. Überall, auf der Klobrille, auf dem Fußboden, an der Tür, war Blut.
«Dad, da kommen Insekten rein», sagte Jonah.
«Ja, Jonah, warum machst du nicht die Tür zu, gehst rauf und nimmst ein Bad. Ich komm gleich hoch und spiel mit dir Dame.»
«Können wir nicht Schach spielen?»
«Ja.»
«Aber du musst mir vorher die Dame, einen Läufer, ein Pferd und einen Turm geben.»
«Ja, ab in die Badewanne!»
«Kommst du gleich?»
«Ja!»
Gary riss frisches Pflaster von der sägezahnigen Rolle und lachte, nur um sich zu vergewissern, dass er das noch konnte, sich selbst im Spiegel an. Blut sickerte durch das Klopapier, rann um sein Handgelenk und löste das Pflaster erneut. Er wickelte seine Hand in ein Gästehandtuch, und mit einem zweiten, gut befeuchteten Gästehandtuch wischte er alles Blut auf. Dann öffnete er die Tür einen Spaltbreit und horchte auf Carolines Stimme im ersten Stock, auf die Spülmaschine in der Küche, auf Jonahs einlaufendes Badewasser. Eine Blutspur führte quer durch den Flur bis zur Haustür. Gary hockte sich hin und wischte, indem er sich im Krebsgang seitwärts fortbewegte, mit dem Gästehandtuch das Blut auf, die verletzte Hand fest an den Bauch gepresst. Auch der graue Holzboden der Veranda war mit Blut bespritzt. Um möglichst wenig Geräusche zu machen, lief Gary auf den Außenkanten seiner Füße. Er ging in die Küche, um Eimer und Wischlappen zu holen, und dort, in der Küche, war die Hausbar.
Nun ja, er öffnete sie. Indem er die Wodkaflasche unter die rechte Achsel klemmte, konnte er mit der linken Hand den Verschluss abschrauben. Und als er die Flasche hob, als er den Kopf in den Nacken legte, um von dem ziemlich geringen Rest eine letzte kleine Menge abzuzweigen, wanderte sein Blick über die Schranktür hinweg, und er sah die Kamera.
Die Kamera hatte die Größe eines Kartenspiels. Sie war auf einer Altazimuthalterung über der hinteren Tür angebracht. Ihr Gehäuse war aus poliertem Aluminium. Sie hatte einen rötlichen Schimmer im Auge.
Gary stellte die Flasche in den Schrank zurück, trat ans Spülbecken und ließ Wasser in einen Eimer laufen. Die Kamera schwenkte dreißig Grad herum und folgte ihm.
Am liebsten hätte er die Kamera von der Decke gerissen oder wäre, da er das nicht tun konnte, nach oben gerannt, um Caleb über die zweifelhafte Moral des Spionierens aufzuklären, oder hätte, da er das auch nicht tun konnte, zumindest gern erfahren, wie lange die Kamera schon dort hing; doch er hatte jetzt etwas zu verbergen, und so musste Caleb zwangsläufig alles, was Gary gegen die Kamera unternahm, jeden Einwand, den er gegen ihre Anwesenheit in der Küche erhob, als eigennützig durchschauen.
Er warf das blutige, staubige Gästehandtuch in den Eimer und näherte sich der hinteren Tür. Die Kamera bäumte sich in ihrer Halterung auf, um ihn im Zentrum ihres Sichtfelds zu behalten. Er stand jetzt unmittelbar unter ihr und blickte in das Auge. Er schüttelte den Kopf und formte mit den Lippen die Wörter Nein, Caleb. Natürlich antwortete die Kamera nicht. Jetzt erst fiel Gary ein, dass der Raum vermutlich auch abgehört wurde. Er konnte Caleb direkt ansprechen, fürchtete aber, dass die Wirkung dessen, was hier geschah, noch um ein Unerträgliches realer würde, wenn er in Calebs Stellvertreterauge sähe, seine eigene Stimme hörte und wüsste, dass sie auch in Calebs Zimmer zu hören wäre. Deshalb schüttelte er erneut den Kopf und machte eine ausholende Bewegung mit der linken Hand, das Schnitt! — Zeichen eines Regisseurs. Dann nahm er den Eimer aus dem Spülbecken und wischte die Veranda vor dem Haus.
Weil er betrunken war, blieb das Problem, dass es eine Kamera gab und Caleb seine Verletzung sowie seinen flüchtigen Kontakt mit der Hausbar bezeugen konnte, nicht als Ensemble bewusster Gedanken und Sorgen in Garys Kopf, sondern zog sich in sich selbst zurück, wurde zu einer Art körperlicher Präsenz in seinem Inneren, einer harten, tumorähnlichen Substanz, die durch seinen Magen hinabwanderte und sich in seinem Unterbauch einnistete. Das Problem bewegte sich natürlich nirgendwohin. Aber einstweilen war es gegen alles Nachdenken gefeit.
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