Er antwortete nicht.
«Was soll diese Tüte? Mein Gott. Was ist passiert?»
Er sagte nichts.
«Gary, sag doch was. Bist du deprimiert?»
«Ja.»
Da seufzte sie. Wochen angestauter Spannung wichen aus dem Zimmer.
«Ich kapituliere», sagte Gary.
«Wie meinst du das?»
«Du musst nicht nach St. Jude fahren», sagte er. «Niemand, der nicht möchte, muss da hinfahren.»
Es kostete ihn viel, das zu sagen, aber es lohnte sich. Er spürte Carolines Körperwärme, ihre Ausstrahlung, noch bevor sie ihn berührte. Das Aufgehen der Sonne, das Kitzeln ihres Haars an seinem Hals, als sie sich über ihn beugte, das Näherkommen ihres Atems, die sanfte Landung ihrer Lippen auf seiner Wange. «Danke», sagte sie.
«Kann sein, dass ich Heiligabend hinfahren muss, aber am ersten Weihnachtstag bin ich wieder da.»
«Danke.»
«Ich bin furchtbar deprimiert.»
«Danke.»
«Ich kapituliere», sagte Gary.
Die Ironie dabei war natürlich, dass er kurz nach seiner Kapitulation — vielleicht schon kurz nach seinem Eingeständnis, deprimiert zu sein, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aber, als er ihr seine Hand zeigte und sie sie ordentlich verband, unter Garantie jedoch keinen Sekundenbruchteil später als in dem Moment, da er mit einer Lok, so lang und hart und schwer wie eine Modelleisenbahn der Größe O, in feuchte, gefurchte Winkel eines Tunnels einfuhr, die ihm, selbst nachdem er zwanzig Jahre lang darin herumgereist war, noch unerforscht vorkamen (er wählte die Löffelstellung, sodass Caroline ihre untere Rückenpartie entlasten und er seine bandagierte Hand gefahrlos auf ihre Seite legen konnte; vögelnde Versehrte waren sie) — nicht nur nicht mehr depressiv, sondern regelrecht euphorisch war.
Plötzlich fiel ihm ein — in Anbetracht des zärtlichen ehelichen Akts, den er gerade vollzog, vielleicht ein unpassender Einfall, doch so war er eben, er war Gary Lambert, er hatte nun einmal unpassende Einfälle, und er war es satt, sich dafür zu entschuldigen! — , dass er Caroline jetzt ohne weiteres bitten könnte, ihm 4500 Axon-Aktien zu kaufen, und dass sie es mit Freuden täte.
Wie ein Kreisel auf einem winzigen Berührungspunkt, so hob und senkte sich ihr Körper, und ihr ganzes sexuelles Wesen, auf der feuchten Kuppe seines Mittelfingers, war nahezu ohne Gewicht.
Er ergoss sich herrlich. Ergoss und ergoss und ergoss sich.
Und so lagen sie, zur Schulschwänzerzeit um neun Uhr dreißig an einem Dienstagmorgen, immer noch nackt da, als das Telefon auf Carolines Nachttisch klingelte. Gary, der abnahm, war entsetzt, die Stimme seiner Mutter zu hören. Er war entsetzt über die Tatsache ihrer Existenz.
«Ich rufe vom Schiff aus an», sagte Enid.
Einen schuldhaften Augenblick lang, bevor ihm aufging, dass das Telefonieren von einem Schiff aus teuer war und seine Mutter daher keine guten Nachrichten haben konnte, glaubte Gary, sie rufe an, weil sie wusste, dass er sie verraten hatte.
ZWEI UHR NULL NULL,Dunkelheit, die Gunnar Myrdal: Rings um den alten Mann sang Wasser in metallenen Rohren ein geheimnisvolles Lied. Während das Schiff das schwarze Meer östlich von Neuschottland aufschlitzte, stampfte es leicht vom Bug zum Heck, als wäre es trotz seiner enormen stählernen Befähigung unsicher und könnte das Problem flüssiger Hügel nur lösen, indem es sie rasch durchstieß; als hinge seine Stabilität davon ab, die Schrecken, die das Schwimmenkönnen barg, auf diese Weise zu vertuschen. Es gab noch eine Welt darunter — die war das Problem. Eine Welt, die Volumen hatte, aber keine Form. Am Tag war das Meer blaue Oberfläche und weiße Gischt, eine reale navigatorische Herausforderung, und das Problem ließ sich überschauen. In der Nacht aber gingen die Gedanken auf Reisen und tauchten hinab in das nachgiebige — das barbarisch einsame — Nichts, auf dem das schwere stählerne Schiff fuhr, und jede heranrollende Welle zeigte sich als Zerrbild eines Koordinatennetzes, zeigte, wie wahrhaft und für immer verloren ein Mensch dort unten, in sechs Faden Tiefe, wäre. Das Land hatte keine z-Achse. Trockenes Land war wie Wachsein. Selbst in wegloser Wüste konnte man auf die Knie fallen und mit der Faust aufs Land trommeln, und das Land gab nicht nach. Natürlich hatte auch der Ozean eine bewegliche Schale. Aber jeder Punkt auf dieser Schale war ein Punkt, an dem man sinken und, indem man sank, verschwinden konnte. Wie die Dinge stampften, so zitterten sie. Ein Beben durchlief das Gerippe der Gunnar Myrdal, ein endloses Vibrieren den Boden, die Koje und die birkenholzgetäfelten Wände. Ein synkopischer Tremor, dem Schiff so eigen und, da er stetig anschwoll und nie schwächer zu werden schien, dem Parkinson'schen Zittern so ähnlich, dass Alfred das Problem in sich selbst geortet hatte, bis er jüngere, gesündere Passagiere davon sprechen hörte.
Er lag in Kabine B11, annähernd wach. Wach in einer Metallkiste, die stampfte und zitterte, einer dunklen Metallkiste, die irgendwo durch die Nacht trieb.
Ein Bullauge gab es nicht. Eine Kabine mit Aussicht hätte einige hundert Dollar mehr gekostet, und Enid hatte behauptet, eine Kabine werde schließlich in erster Linie zum Schlafen genutzt, wozu brauche man da, noch dazu bei dem Preis, ein Bullauge? Auf der ganzen Reise werde sie da vielleicht sechsmal rausgucken. Das mache fünfzig Dollar pro Blick.
Jetzt schlief sie, lautlos, wie ein Mensch, der sich schlafend stellt. Der schlafende Alfred war eine Symphonie aus Schnarchern, Schnaufern und Röchlern, ein Epos aus Eszett. Enid war ein Haiku. Stundenlang lag sie still, um dann mit einem Mal die Augen aufzuschlagen, als würde ein Licht angeknipst. Manchmal im Morgengrauen in St. Jude, in der langen Minute, die der Radiowecker brauchte, um zur nächsten Ziffer zu springen, war das Einzige, was sich im ganzen Haus bewegte, Enids Auge.
Am Morgen von Chips Empfängnis hatte sie nur so ausgesehen, als stelle sie sich schlafend, doch sieben Jahre später, am Morgen, als sie Denise empfing, hatte sie Alfred wirklich etwas vorgemacht. Solche lässlichen Täuschungsmanöver hatte Alfred im mittleren Alter provoziert. Nach gut zehn Ehejahren war er zu einem jener übermäßig gezähmten Raubtiere geworden, wie es sie im Zoo gibt — dem Bengalischen Tiger, der das Töten verlernt hat, dem vor lauter Niedergeschlagenheit faul gewordenen Löwen. Um Anziehungskraft auszuüben, musste Enid ein regloser, unblutiger Kadaver sein. Streckte sie die Hand nach ihm aus, ja warf sie gar einen Schenkel über den seinen, igelte er sich ein und verbarg sein Gesicht; trat sie auch nur nackt aus dem Badezimmer, wandte er die Augen ab, wie es die goldene Regel dem Mann gebot, der es hasste, selbst gesehen zu werden. Nur frühmorgens, beim Aufwachen, wenn er ihre schmale weiße Schulter erspähte, wagte er sich aus seinem Bau. Ihre Stille und Selbstbeherrschung, ihre langsamen kleinen Atemzüge, ihre reine Verletzlichkeit als Objekt machten ihn sprungbereit. Und kaum spürte sie seine gepolsterte Pranke auf ihren Rippen und seinen fleischlüsternen Atem an ihrem Hals, wurde sie schlaff wie Beute, die sich instinktiv ergibt («Bringen wir das Sterben schnell hinter uns»), während ihre Passivität in Wahrheit doch berechnet war, denn dass Passivität ihn entflammte, wusste sie. Er nahm Enid, und in gewisser Weise wollte sie das auch, wie ein Tier: in der stummen, geteilten Intimität der Gewalt. Auch sie ließ die Augen geschlossen. Drehte sich oft nicht einmal von der Seite, auf der sie gelegen hatte, zu ihm um, sondern stellte nur die Hüfte aus, zog in vage proktologischem Reflex ein wenig das Knie an. Danach ging er, ohne ihr sein Gesicht zu zeigen, ins Bad, wusch und rasierte sich, und wenn er wieder herauskam, sah er das bereits gemachte Bett und hörte die Kaffeemaschine gurgeln. Enid, da unten in der Küche, mochte es wohl scheinen, ein Löwe und nicht ihr Ehemann hätte sich wollüstig über sie hergemacht, oder einer der Männer in Uniform, von denen sie besser einen hätte heiraten sollen, wäre in ihr Bett geschlüpft. Es war kein herrliches Leben, aber von solchen Selbsttäuschungen und von ihren Erinnerungen (die jetzt merkwürdig wie Selbsttäuschungen wirkten), Erinnerungen an die ersten Jahre, als Alfred verrückt nach ihr gewesen war und ihr in die Augen gesehen hatte, konnte eine Frau schon zehren. Wichtig war, Stillschweigen zu bewahren. Wenn nie von dem Akt gesprochen wurde, gab es keinen Grund, ihn nicht mehr zu vollziehen, bis Enid ganz sicher wieder schwanger war, und auch nach der Schwangerschaft keinen Grund, nicht damit fortzufahren, solange nur nie die Sprache darauf kam.
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