In der Lobby des CenTrust-Hochhauses an der Market Street gesellte er sich zu der Ansammlung menschlicher Wesen vor den Fahrstühlen: Schreibkräften und Softwarespezialisten, Buchprüfern und Computertechnikern, die von einem späten Mittagessen zurückkehrten.
«Löwe sein jetzt im Aszendent», sagte die Frau neben Gary. «Sehr gute Zeit jetzt zum Kaufen. Löwe oft wachen über Schnäppchen in Geschäft.»
«Wo bleibt dabei unser Erlöser?», fragte die Frau, zu der die andere gesprochen hatte.
«Dies auch sein gute Zeit, an Erlöser zu denken», antwortete die erste Frau ruhig. «Zeit des Löwen sehr gute Zeit dafür.»
«Lutetium-Zusätze, kombiniert mit einer großen Dosis teilweise hydriertem Vitamin E!», sagte eine dritte Person.
«Er hat seinen Radiowecker programmiert», sagte eine vierte Person, «also, den kann man offenbar so einstellen, also, ich wusste gar nicht, dass so was geht, aber er hat ihn so programmiert, dass er jede Stunde Punkt elf Minuten nach mit WMIA geweckt wird. Die ganze Nacht durch.»
Endlich kam ein Fahrstuhl. Während die Masse Mensch hineinströmte, erwog Gary, auf eine weniger bevölkerte Kabine zu warten, auf eine Fahrt, die ihn mit weniger Mittelmaß und körperlicher Ausdünstung behelligen würde. Doch just in diesem Moment stolzierte eine junge Vermögensberaterin von der Market Street herein, die ihm in den letzten Monaten freundliche Sprich-mit-mir- und Berühr-mich-Blicke zugeworfen hatte. Um den Kontakt mit ihr zu vermeiden, schoss er durch die sich bereits schließenden Fahrstuhltüren. Aber die Türen stießen gegen seine Ferse und öffneten sich wieder. Die junge Vermögensberaterin drängte sich hinter ihm herein.
«Der Prophet Jeremias, Mädchen, er sprechen von Löwen. Das stehen hier, in der Flugschrift.»
«Also, ich sag mal, es ist drei Uhr elf, und die Clippers führen 146 zu 145 gegen die Grizzlies, dritte Verlängerung, noch zwölf Sekunden zu spielen.»
Absolut kein Widerhall in einem vollen Fahrstuhl. Jedes Geräusch von Kleidern und Fleisch und Frisuren erstickt. Die Luft vorgeatmet. Die Gruft allzu warm.
«Diese Flugschrift ist Teufelswerk.»
«Du sie lesen in der Kaffeepause, Mädchen. Wo soll sein Schaden?»
«Beide Teams stehen am Tabellenende und versuchen, ihre Chancen in der College-Lotterie zu erhöhen, indem sie dieses Spiel verlieren, das ansonsten keine Bedeutung mehr hat, weil die Saison ja fast vorbei ist.»
«Lutetium ist ein Element der Seltenen Erden, sehr selten, stammt aus der Erde und ist rein, weil es elementar ist!»
«Aber wenn er den Wecker, ich sag mal, auf vier Uhr elf stellen würde, könnte er alle Ergebnisse hören und brauchte dafür bloß einmal wach zu werden. Bloß, in Sydney ist Davis Cup, da wird man jede Stunde auf den neuesten Stand gebracht. Das darf er auch nicht verpassen.»
Die junge Vermögensberaterin war klein und hatte ein hübsches Gesicht und mit Henna gefärbtes Haar. Sie lächelte zu Gary empor, als wolle sie ihn zum Sprechen auffordern. Sie sah mittelwestlich aus und schien zufrieden, neben ihm zu stehen.
Gary blickte ins Leere und versuchte, nicht zu atmen. Er ärgerte sich chronisch über das T, das in der Mitte des Wortes CenTrust emporragte. Er hätte das T gern platt gedrückt, wie eine Brustwarze, aber das zu tun brachte ihm keine Befriedigung. Alles, was dabei herauskam, war cent-rust: ein verrosteter Cent.
«Mädchen, das sein kein Ersatzglaube. Sein zusätzlich. Jesaja erwähnen Löwen auch. Nennen ihn Löwen von Judäa.»
«Ein Profi-Golfturnier in Malaysia mit einem Führenden, der ganz schnell wieder im Klubhaus ist, aber daran könnte sich zwischen zwei Uhr elf und drei Uhr elf ja was ändern. Darf er auch nicht versäumen.»
«Mein Glaube braucht keinen Ersatz.»
«Sheri, Mädchen, du haben Schmalzpfropfen im Ohr? Du zuhören, ja? Das. Sein. Kein. Ersatz. Glaube. Sein zusätzlich.»
«Garantiert seidige, elastische Haut, und dazu ein Rückgang von Panikattacken um achtzehn Prozent!»
«Ich frag mich bloß, wie Samantha es findet, dass jede Nacht achtmal der Wecker neben ihrem Kissen losgeht.»
«Ich sagen ja nur, jetzt sein gute Zeit zum Einkaufen, das alles, was ich sagen.»
Während die junge Vermögensberaterin sich an ihn lehnte, um einen Schwall schweißgebadeter Menschheit aus dem Fahrstuhl zu lassen, während sie inniger, als es unbedingt nötig schien, ihr hennagefärbtes Haar an seine Rippen schmiegte, wurde Gary klar, dass es noch einen Grund gab, warum er Caroline in den zwanzig Jahren ihrer Ehe treu geblieben war: seine stetig wachsende Aversion gegen den Körperkontakt mit Fremden. Gewiss, er war in die eheliche Treue verliebt, und ja, es gab ihm einen erotischen Kick, um des Prinzips willen daran festzuhalten; aber womöglich lockerte sich irgendwo zwischen seinem Gehirn und seinen Eiern auch gerade ein Draht, denn als er im Geist diese kleine Rothaarige auszog und kräftig rannahm, dachte er hauptsächlich daran, wie muffig und unhygienisch er den Ort seines Ehebruchs finden würde — eine kolibakteriell verseuchte Abstellkammer, ein Zimmer im Marriott mit getrocknetem Sperma an Wänden und Laken, die katzenkrallenfiebrige Rückbank des entzückenden VW oder Plymouth, den sie zweifellos fuhr, den sporenschweren Teppichboden ihrer pferdeboxartigen ersten eigenen Wohnung in Montgomeryville oder Conshohocken, jeder dieser Orte auf seine ureigene grässliche Weise überwarm und unterbelüftet und genitalwarzen- und chlamydienfreundlich — und daran, wie anstrengend das Atmen wäre, wie erdrückend ihr Fleisch, wie erbärmlich und zum Scheitern verurteilt sein Bemühen, nicht herablassend zu wirken…
Im sechzehnten Stock sprang er aus dem Fahrstuhl und füllte seine Lungen in tiefen Zügen mit kühler, zentral gereinigter Luft.
«Ihre Frau hat ein paar Mal angerufen», sagte seine Sekretärin Maggie. «Sie möchte, dass Sie sie sofort zurückrufen.»
Gary nahm einen Stapel Nachrichten aus seinem Posteingangskasten auf Maggies Schreibtisch. «Hat sie gesagt, worum es geht?»
«Nein, aber sie klang besorgt. Obwohl ich ihr gesagt habe, dass Sie nicht da sind, hat sie immer wieder angerufen.»
Gary schloss seine Bürotür und blätterte die Nachrichten durch. Caroline hatte um 13 Uhr 35, 13 Uhr 40, 13 Uhr 50, 13 Uhr 55 und 14 Uhr 10 angerufen; jetzt war es 14 Uhr 25. Er ballte triumphierend die Faust. Endlich, endlich ein Zeichen der Verzweiflung.
Er rief zu Hause an und sagte: «Was gibt's?»
Carolines Stimme zitterte. «Gary, irgendwas stimmt mit deinem Handy nicht. Wenn ich deine Nummer wähle, geht nicht mal die Mailbox an. Was ist los damit?»
«Ich hab's ausgeschaltet.»
«Seit wann denn das? Ich versuche seit einer Stunde, dich zu erreichen, und jetzt muss ich die Jungs abholen, aber ich möchte nicht aus dem Haus! Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll!»
«Caro. Sag mir, was los ist.»
«Da ist jemand vor unserem Haus, auf der anderen Straßenseite.»
«Wer?»
«Ich weiß nicht. Jemand in einem Auto, ich weiß nicht. Seit einer Stunde sitzt er da.»
Die Spitze von Garys Schwanz tropfte wie eine brennende Kerze. «Hm», sagte er. «Bist du nachsehen gegangen, wer es ist?»
«Nein, ich hab viel zu große Angst», sagte Caroline. «Und die Polizei sagt, es ist eine öffentliche Straße.»
«Das stimmt ja auch. Sie ist öffentlich, klar.»
«Gary, das Neverest-Schild ist wieder geklaut worden!» Jetzt schluchzte sie beinahe. «Ich bin gegen zwölf nach Hause gekommen, und da war es weg. Dann habe ich rausgeguckt und diesen Wagen gesehen, und da sitzt jemand hinterm Steuer.»
«Was für ein Wagen ist es?»
«Ein großer Kombi. Alt. Ich habe ihn hier noch nie gesehen.»
«War er schon da, als du nach Hause gekommen bist?»
«Ich weiß es nicht! Aber jetzt muss ich Jonah abholen, und ich mag nicht aus dem Haus gehen, wo doch das Schild weg ist und der Wagen da draußen steht — »
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