«Ja, weil auch sie in einer Phantasiewelt lebt! Was nützt es ihr denn, an dem Haus zu hängen, wenn sie vierundzwanzig Stunden am Tag ein Auge auf den alten Mann haben muss?»
Denise schielte und blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. «Der Phantast bist du», sagte sie. «Du scheinst zu glauben, dass sich die beiden in einer Zweizimmerwohnung wohlfühlen werden, noch dazu in einer Stadt, in der sie außer dir und mir niemanden kennen. Und weißt du, für wen das bequem ist? Für dich.»
Er warf die Hände in die Luft. «Und wennschon! Ich habe die Nase voll davon, mir Gedanken über das Haus in St. Jude zu machen! Ich habe die Nase voll von den Reisen dahin. Ich habe die Nase voll, davon zu hören, wie unglücklich Mom ist. Eine Situation, die für dich und mich bequem ist, ist allemal besser als eine, die für niemanden bequem ist. Mom lebt mit einem körperlichen Wrack zusammen. Er will nicht mehr, er hat mit allem abgeschlossen, finito, Feierabend, da können wir uns auf den Kopf stellen. Aber sie glaubt immer noch, dass er sich nur mehr Mühe geben müsste, und schon wäre alles wieder gut und das Leben wieder wie früher. Also, ich verrate euch jetzt mal was: Es wird nie mehr sein wie früher.»
«Du willst ja gar nicht, dass es ihm besser geht.»
«Denise.» Gary kniff die Augen zusammen. «Sie hatten fünf Jahre, bevor er krank wurde. Und was hat er in dieser Zeit gemacht? Er hat die Lokalnachrichten geguckt und gewartet, dass Mom das Essen serviert. Das ist die Wirklichkeit, in der wir leben. Und ich möchte, dass die beiden aus diesem Haus — »
«Gary.»
«Ich möchte, dass sie hier in eine Seniorenresidenz ziehen, und ich scheue mich nicht, das auch zu sagen.»
«Gary, hör mir mal zu.» Denise beugte sich mit einem aufgesetzten Wohlwollen vor, das ihn nur noch mehr reizte. «Dad kann sechs Monate bei mir wohnen. Sie können von mir aus beide herkommen und bei mir wohnen, ich kann fertige Mahlzeiten mit nach Hause bringen, das ist kein großes Problem. Wenn es ihm danach besser geht, fahren sie wieder nach Hause. Wenn nicht, dann haben sie sechs Monate gehabt, um zu überlegen, ob sie in Philly leben möchten. Ich meine, was ist dagegen einzuwenden?»
Gary wusste nicht, was dagegen einzuwenden war. Aber er hörte schon Enids unerquickliche Ergüsse über Denise'
Großherzigkeit. Und da es unmöglich war, sich vorzustellen, dass Caroline und Enid sich sechs Tage lang (geschweige denn sechs Wochen oder gar sechs Monate) friedlich ein und dasselbe Haus teilten, konnte Gary nicht einmal anstandshalber anbieten, seine Eltern bei sich aufzunehmen.
Er hob die Augen zum intensiven Weiß einer Ecke des Bürohochhauses, das die Nähe der Sonne erahnen ließ. Die Chrysanthemen-, Begonien- und Liriopenbeete um ihn herum waren wie Bikinis tragende Statistinnen in einem Videoclip; in voller, vollendeter Blüte gepflanzt, war es ihnen bestimmt, herausgerissen zu werden, bevor sie welken, braune Flecken bekommen, Blätter verlieren konnten. Gary hatten firmeneigene Gärten schon immer gefallen, als Kulissen für das Gepränge des Privilegs, als Metonymien der Verzärtelung, aber es war entscheidend, nicht zu viel von ihnen zu verlangen. Entscheidend, nicht zu ihnen zu kommen, wenn man in Not war.
«Ach, im Grunde ist es mir egal», sagte er. «Der Plan ist hervorragend. Und wenn du die Rennerei übernehmen willst, umso besser.»
«Gut, die ‹Rennerei› übernehme ich», sagte Denise schnell. «Und was ist mit Weihnachten? Dad möchte unbedingt, dass ihr alle kommt.»
Gary lachte. «Er also auch.»
«Er möchte es Mom zuliebe. Und sie will es ganz unbedingt.»
«Natürlich will sie das. Schließlich ist sie Enid Lambert. Was könnte sich Enid Lambert anderes wünschen als Weihnachten in St. Jude?»
«Also, ich fahre jedenfalls hin», sagte Denise. «Chip werde ich noch bearbeiten, und ihr fünf solltet auch fahren. Wir sollten uns einfach alle aufraffen und ihnen diesen einen Gefallen tun.»
Als er das leise Beben der Tugendhaftigkeit in ihrer Stimme hörte, sträubten sich Gary die Nackenhaare. Ein Vortrag über Weihnachten war das Letzte, was er an diesem Oktobernachmittag, an dem die Nadel seiner Faktor-3-Anzeige ohnehin schon an das grellrote L stieß, brauchen konnte.
«Dad hat am Samstag etwas Merkwürdiges gesagt», fuhr Denise fort. «Er sagte: ‹Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt.› Beide haben so geredet, als wäre dies vielleicht ihr letztes Weihnachten. Das ging mir irgendwie unter die Haut.»
«Na, darin ist Mom doch Meisterin», sagte Gary ein bisschen aufbrausend. «Etwas so zu formulieren, dass sie ein Maximum an emotionalem Druck damit ausübt!»
«Stimmt schon. Aber ich glaube, sie meint es wirklich so.»
«Klar meint sie es so!», sagte Gary. «Und ich werde darüber nachdenken! Aber, Denise, es ist nicht so einfach, uns alle fünf dahin zu verfrachten. Es ist alles andere als einfach! Zumal es so viel näher liegt, dass wir alle hier bleiben! Stimmt's? Stimmt's?»
«Du hast ja Recht, ich weiß», antwortete Denise ruhig. «Aber vergiss nicht, es wäre nur dieses eine, einzige Mal.»
«Ich habe doch gesagt, dass ich darüber nachdenke. Das ist alles, was ich tun kann, stimmt's? Ich denke darüber nach! Ich denke darüber nach! Zufrieden?»
Denise schien über seinen Ausbruch erstaunt. «Ist ja gut, Gary, danke. Aber die Sache ist doch — »
«Ja, was ist denn die Sache?», sagte Gary, machte drei Schritte von ihr weg und drehte sich ruckartig wieder um. «Sag mir, was die Sache ist.»
«Na ja, ich dachte nur — »
«Weißt du, ich bin schon eine halbe Stunde zu spät. Ich muss jetzt wirklich wieder ins Büro.»
Denise schaute zu ihm hoch, rollte mit den Augen und ließ ihren Mund mitten im Satz offen stehen.
«Jetzt lass uns mal zum Ende kommen», sagte Gary.
«Also, ich will ja nicht wie Mom klingen, aber — » «Das hättest du dir ein bisschen früher überlegen müssen, hä? Hä?», rief er, die Hände in der Luft, mit einer aberwitzigen Heiterkeit, die ihn selbst überraschte.
«Ich will ja nicht wie Mom klingen, aber — du solltest mit der Entscheidung, Flugtickets zu kaufen, nicht mehr zu lange warten. So, jetzt hab ich's gesagt.»
Gary fing an zu lachen, bezwang das Lachen aber, bevor es mit ihm durchging. «Guter Plan!», sagte er. «Du hast Recht! Ich muss mich bald entscheiden! Muss endlich diese Tickets kaufen! Guter Plan!» Er klatschte in die Hände wie ein Trainer.
«Stimmt irgendwas nicht?»
«Nein, du hast ja Recht. Wir sollten alle nach St. Jude fahren und dort ein letztes Mal Weihnachten feiern, bevor sie das Haus verkaufen oder Dad zusammenklappt oder irgendeiner stirbt. Das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock. Wir sollten alle hinfahren. Völlig klar. Du hast absolut Recht.»
«Dann verstehe ich nicht, worüber du dich so aufregst.»
«Über gar nichts. Ich rege mich gar nicht auf!»
«Na gut.» Denise blickte ihm fest in die Augen. «Dann hätte ich nur noch eine Frage. Ich möchte wissen, warum Mom glaubt, ich hätte eine Affäre mit einem verheirateten Mann.»
Ein Stromstoß des schlechten Gewissens, eine Druckwelle, durchlief Gary. «Keine Ahnung», sagte er.
«Hast du ihr erzählt, ich hätte etwas mit einem verheirateten Mann?»
«Wie könnte ich? Ich weiß doch überhaupt nichts über dein Privatleben.»
«Komm, hast du ihr etwas eingeflüstert? Irgendeine Andeutung gemacht?»
«Denise. Im Ernst.» Gary gewann allmählich seine väterliche Fassung wieder, seine Aura der großbrüderlichen Milde. «Du bist der diskreteste Mensch, den ich kenne. Auf welcher
Grundlage hätte ich ihr irgendwas erzählen sollen?»
«Hast du eine Andeutung gemacht?», fragte sie. «Irgendjemand hat das jedenfalls getan. Irgendjemand hat ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt. Und ich erinnere mich, dass ich dir gegenüber mal eine klitzekleine Bemerkung habe fallen lassen, die du vielleicht falsch aufgefasst und ihr weitererzählt hast. Mann, Gary, sie und ich haben schon genug Probleme.»
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