Nachdem er aufgelegt hatte, stellte Gary sich einen Augenblick lang vor, wie es wäre, geschieden zu sein. Doch drei leuchtende und idealisierende Charakterbilder seiner Kinder, überschattet von einem fledermausartigen Schwarm finanzieller Sorgen, verscheuchten diesen Gedanken aus seinem Kopf.
Am Samstag, während eines Abendessens, hatte er auf der Suche nach irgendetwas Valiumähnlichem den Medizinschrank seiner Freunde Drew und Jamie durchwühlt, doch vergebens.
Gestern hatte ihn Denise angerufen und mit unheilvoller Beharrlichkeit darauf bestanden, ihn zum Lunch zu treffen. Sie sagte, sie habe am Samstag Enid und Alfred in New York gesehen. Und Chip und seine Freundin hätten sie versetzt und sich aus dem Staub gemacht.
Als er letzte Nacht wach gelegen hatte, war Gary die Frage gekommen, ob Caroline solche Glanzleistungen meinte, wenn sie Chip als einen Mann beschrieb, der «ehrlich genug» sei zu sagen, was er «ertragen» könne und was nicht.
«Die Zellen werden genetisch so reprogrammiert, dass sie den Nervenwachstumsfaktor nur dann freisetzen, wenn sie lokal aktiviert werden!», verkündete Earl Eberles Videofaksimile gut gelaunt.
Ein bezauberndes weibliches Versuchskaninchen, den Schädel unter einem Eberle-Helm, war in einem Gerät festgeschnallt, das seinem Gehirn wieder beibrachte, den Beinen das Laufen zu befehlen.
Ein anderes Versuchskaninchen, im grauen Winterfell der Misanthropie und Bitterkeit, schob mit den Fingern die Mundwinkel hoch, während der vergrößerte Ausschnitt einer Computeranimation zeigte, wie in seinem Gehirn baumähnliche Verästelungen wuchsen und neue synaptische Verbindungen entstanden. Im nächsten Moment konnte das Mädchen ganz vorsichtig und ohne seine Finger zu benutzen lächeln. Noch einen Augenblick später strahlte es.
KORREKTAL: DAS IST DIE ZUKUNFT!
«Die Axon Corporation ist in der glücklichen Lage, fünf US- amerikanische Patente zu haben, die die beschriebene mächtige Grundlagentechnologie schützen», sagte Earl Eberle in die Kamera. «Diese Patente sowie acht weitere Verfahren, die gerade zum Patent angemeldet werden, bilden eine undurchdringliche Firewall, hinter der die einhundertfünfzig Millionen Dollar, die wir bisher in die Forschung und Entwicklung gesteckt haben, sicher sind. Axon ist anerkanntermaßen auf diesem Gebiet weltweit führend. Wir blicken auf sechs Jahre ununterbrochenen Überschuss zurück und haben kontinuierliche Einnahmen, die im kommenden Jahr aller Wahrscheinlichkeit nach achtzig Millionen Dollar übersteigen werden. Potenzielle Investoren dürfen darauf vertrauen, dass jeder Penny eines jeden Dollars, den wir am 15. Dezember bekommen, für die Weiterentwicklung dieses phantastischen und womöglich historischen Produkts verwendet werden wird. Korrektal: Das ist die Zukunft!», sagte Eberle.
«Das ist die Zukunft!», intonierte der Sprecher.
«Das ist die Zukunft!», stimmte die Menge der gut aussehenden Studenten mit ihren Streberbrillen ein.
«Ich mochte die Vergangenheit», sagte Denise und setzte ihre Halbliterflasche importierten Gratiswassers an die Lippen.
Garys Meinung nach atmeten zu viele Menschen die Luft von Ballsaal B. Ein Lüftungsproblem. Als die Lichter voll aufgedreht wurden, schwärmte schweigendes Bedienungspersonal aus, lief zwischen den Tischen hin und her und trug Essen unter wärmenden Deckeln auf.
«Ich tippe auf Lachs», sagte Denise. «Nein, mit Sicherheit Lachs.»
Die drei Gestalten, die sich jetzt aus ihren Talkshow-Sesseln erhoben und an den vorderen Rand des Podiums traten, erinnerten Gary auf sonderbare Weise an seine Flitterwochen in Italien. Er und Caroline hatten irgendwo in der Toskana, vielleicht in Siena, eine Kathedrale besichtigt, in deren Museum große mittelalterliche Heiligenstatuen ausgestellt waren, die einst auf dem Dach der Kathedrale gestanden hatten, jede mit einem erhobenen Arm, als wären es winkende Präsidentschaftskandidaten, auf den Gesichtern ein heiliges Grinsen der Gewissheit.
Der älteste der drei glückseligen Redner, ein rosawangiger Mann mit randloser Brille, streckte eine Hand aus, wie um die Menge zu segnen.
«Also dann!», sagte er. «Also dann, meine Herrschaften! Mein Name ist Joe Prager, ich bin der Bevollmächtigte von Bragg Knuter für diese Transaktion. Die Dame zu meiner Linken ist Merilee Finch, Vorstandsvorsitzende bei Axon, der Herr zu meiner Rechten Daffy Anderson, der alles entscheidende Dealmanager bei Hevy & Hodapp. Wir hatten gehofft, dass uns Krauskopf höchstpersönlich heute noch die Ehre geben würde, aber er ist der Mann der Stunde und wird just in diesem Moment von CNN interviewt. Also lassen Sie mich hier ein paar Warnungen aussprechen, zwinker, zwinker, und dann das Wort an Daffy und Merilee weitergeben.»
«Jo, Kelsey, schieß los, Baby, schieß los», rief Garys junger Nebenmann.
«Warnung A», sagte Prager. «Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich betone, wie extrem vorläufig Krauskopfs Ergebnisse sind. Das Ganze hier ist Phase eins der Forschung, Leute. Gibt's hier jemanden, der mich akustisch nicht versteht? Da ganz hinten?» Prager reckte den Hals und winkte mit beiden Armen den am weitesten entfernten Tischen zu, wo auch Gary saß. «Alle Karten auf den Tisch gelegt: Dies ist Phase eins der Forschung. Axon hat von der Arznei- und Lebensmittelbehörde noch keine Genehmigung, mit den Tests für Phase zwei zu beginnen, und will da auch niemandem etwas vormachen. Und was kommt nach Phase zwei? Phase drei! Und nach Phase drei? Ein mehrstufiges Kontrollverfahren, das die Einführung des Produkts auf dem Markt noch einmal um bis zu drei Jahre verzögern kann. Hallo, Leute, wir haben es hier mit klinischen Ergebnissen zu tun, die außerordentlich interessant, aber auch außerordentlich vorläufig sind. Also Vorsicht, liebe Käufer. Alles klaro? Zwinker, zwinker. Alles klaro?»
Prager bemühte sich, ein ernstes Gesicht zu machen. Auch Merilee Finch und Daffy Anderson verbissen sich das Lächeln, als hätten sie schmutzige Geheimnisse oder heikle religiöse Überzeugungen.
«Warnung B», sagte Prager. «Eine inspirierende Videopräsentation ist keine Subkriptionsanzeige. Daffys Darlegungen heute sind, ebenso wie Menlees, improvisiert und, ich sage es noch einmal, keine Subskriptionsanzeige…»
Das Bedienungspersonal fiel jetzt über Garys Tisch her und servierte ihm Lachs auf einem Linsenbett. Denise winkte ab.
«Isst du nichts?», flüsterte Gary.
Sie schüttelte den Kopf.
«Denise. Ehrlich.» Unerklärlicherweise fühlte er sich gekränkt. «Du könntest schon ein paar Happen mit mir essen.»
Denise sah ihn mit unergründlicher Miene an. «Mir ist ein bisschen schlecht.»
«Möchtest du gehen?»
«Nein. Ich möchte nur nichts essen.»
Mit ihren zweiunddreißig Jahren war Denise immer noch hübsch, obwohl lange Stunden am Herd ihre jugendliche Haut mehr und mehr zu einer Art Terrakottamaske brannten, die Gary jedes Mal wenn sie sich trafen, ein wenig banger zumute werden ließ. Schließlich war sie seine kleine Schwester. Die Jahre ihrer
Fruchtbarkeit und Heiratsfähigkeit vergingen in einem Tempo, auf das er eingestimmt war, sie hingegen, wie er vermutete, nicht. Ihre Karriere war in seinen Augen ein böser Zauber, in dessen Bann sie sechzehn Stunden am Tag arbeitete und keinerlei Privatleben hatte. Gary machte sich Sorgen — und als ihr ältester Bruder nahm er das Recht dazu für sich in Anspruch — , dass Denise, wenn sie eines Tages aus diesem Zauber erwachte, zu alt wäre, um eine Familie zu gründen.
Schnell aß er seinen Lachs, während sie ihr importiertes Wasser trank.
Auf dem Podium sprach die Vorstandsvorsitzende von Axon, eine blonde Frau um die vierzig mit der scharfzüngigen Kampfeslust einer College-Rektorin, über Nebenwirkungen. «Abgesehen von Kopfschmerzen und Übelkeit, mit denen man rechnen muss», sagte Merilee Finch, «haben wir noch nichts im Visier. Bedenken Sie, dass unsere Grundlagentechnologie immerhin schon seit einigen Jahren breite Anwendung findet, ohne dass von irgendwelchen signifikanten schädlichen Nebenwirkungen berichtet worden wäre.» Finch zeigte in den Ballsaal. «Ja, grauer Armani?»
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