«Nein, Caleb.»
«Aber es gibt da einen Laden, in den ich unbedingt rein muss.»
«Die erschwinglichen Flüge sind ruck, zuck ausgebucht», sagte Enid.
«Aaron?», rief Caroline aus der Küche. «Aaron! Wo bist du? Wo ist dein Vater? Wo ist Caleb?»
«Wirklich ganz schön laut hier für jemanden, der sich konzentrieren will», sagte Jonah.
«Tut mir Leid, Mutter», sagte Gary, «ich gehe irgendwohin, wo's ruhiger ist.»
«Es ist höchste Zeit», sagte Enid mit der Panik einer Frau in der Stimme, für die jeder Tag, der verging, ja jede Stunde bedeutete, dass weitere Plätze in Dezember-Maschinen reserviert wurden und somit jegliche Hoffnung auf ein letztes gemeinsames Weihnachten mit Gary, Caroline und den Jungen in St. Jude Stück für Stück zerbrach.
«Dad», flehte Aaron, während er Gary ins Obergeschoss folgte, «was soll ich ihr ausrichten?»
«Sag ihr, sie soll die 911 wählen. Nimm dein Handy und ruf einen Krankenwagen.» Gary hob die Stimme. «Caroline? Wähl die 911!»
Nach einer Reise in den Mittelwesten neun Jahre zuvor, zu deren besonderen Torturen nicht nur Eisstürme in Philadelphia und in St. Jude gehört hatten, sondern auch eine vierstündige Verspätung auf dem Rollfeld mit einem quengelnden Fünf- und einem brüllenden Zweijährigen, ein die ganze Nacht heftig brechender Caleb, der (jedenfalls Caroline zufolge) Enids butter- und speckhaltiges Festtagsmenü nicht vertragen hatte, und ein gemeiner Sturz von Caroline auf der spiegelglatten Einfahrt ihrer Schwiegereltern (ihre Rückenprobleme stammten aus ihren Feldhockey-Tagen im Friends' Central, aber nun behauptete sie, die Verletzung sei auf besagter Einfahrt «reaktiviert» worden), nach dieser Reise also hatte Gary seiner Frau versprochen, dass er sie nie wieder bitten werde, Weihnachten nach St. Jude zu fahren. Inzwischen aber waren seine Eltern acht Jahre hintereinander nach Philadelphia gekommen, und obwohl es ihm gar nicht behagte, wie besessen seine Mutter von Weihnachten war — er hielt das ganze Getue für ein Symptom eines umfassenderen Leidens, einer schmerzhaften Leere in ihrem Leben — , konnte er es seinen Eltern kaum verdenken, dass sie dieses Jahr zu Hause bleiben wollten. Außerdem spekulierte Gary darauf, dass Enid St. Jude bereitwilliger verlassen und an die Ostküste umziehen würde, wenn sie ihr «letztes Weihnachten» gehabt hätte. Im Grunde war er dafür, die Reise anzutreten, und er erwartete ein Minimum an Kooperation von seiner Frau: eine souveräne Bereitschaft, auf die besonderen Umstände Rücksicht zu nehmen.
Er zog die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu und schloss ab, um das Geschrei und Gewinsel seiner Familie, das Fußgetrappel auf der Treppe, den Möchtegern-Notfall auszusperren. Er nahm den Hörer des Telefons auf seinem Schreibtisch ab und schaltete das schnurlose aus.
«Das ist ja wirklich lächerlich», sagte Enid mit entkräfteter Stimme. «Warum rufst du mich nicht zurück?»
«Wir sind noch unschlüssig, was Weihnachten angeht», sagte er, «aber es ist gut möglich, dass wir nach St. Jude kommen. Ich denke also, ihr solltet nach der Kreuzfahrt bei uns vorbeischauen.»
Enid atmete ziemlich laut. «Wir fahren diesen Herbst auf keinen Fall zweimal nach Philadelphia», sagte sie. «Und da ich die Jungen Weihnachten sehen möchte, heißt das für mich, dass ihr nach St. Jude kommt.»
«Nein, Mutter», sagte er. «Nein, nein, nein. Wir haben noch nichts entschieden.»
«Ich habe Jonah versprochen — »
«Jonah ist nicht derjenige, der die Tickets kauft. Jonah hat hier nicht zu bestimmen. Also macht ihr mal eure Pläne, und wir machen unsere, und dann schüttelt sich hoffentlich alles zurecht.»
Seltsam deutlich hörte Gary das missbilligende Schnauben, das aus Enids Nasenlöchern kam. Er hörte das Meeresrauschen ihrer Atmung, und mit einem Schlag wusste er Bescheid.
«Caroline?», sagte er. «Caroline, bist du in der Leitung?»
Das Atmen hörte auf.
«Caroline, belauschst du uns? Bist du in der Leitung?»
Er hörte ein leises Klicken, eine kurze statische Störung.
«Mom, es tut mir Leid — »
Enid: «Was um alles in der Welt — »
Unglaublich! Scheißunglaublich! Gary ließ den Hörer auf seinen Schreibtisch fallen, schloss die Tür auf und rannte den Flur entlang, an einem Kinderzimmer vorbei, in dem Aaron, mit gekräuselter Stirn und schmeichelhaft schräg gehaltenem Kopf, vor seinem Spiegel stand, an der Treppe vorbei, auf der Caleb seinen Katalog umklammerte wie ein Zeuge Jehovas sein Pamphlet, ins Elternschlafzimmer, wo Caroline in ihren verdreckten Kleidern zusammengekrümmt wie ein Embryo auf dem Perserteppich lag und sich ein frostüberzogenes Kältekissen ins Kreuz presste.
«Belauschst du mich?»
Caroline schüttelte matt den Kopf, vielleicht um anzudeuten, dass sie gar nicht genügend Kraft habe, das Telefon neben dem Bett zu erreichen.
«Heißt das nein? Sagst du nein? Du hast nicht mitgehört?»
«Nein, Gary», sagte sie mit Zwergenstimme.
«Ich habe das Klicken gehört, ich habe das Atmen gehört — »
«Nein.»
«Caroline, es gibt drei Anschlüsse für diese Leitung, zwei davon habe ich in meinem Arbeitszimmer, der dritte ist hier. Hallo?»
«Ich habe nicht gelauscht. Ich hab nur den Hörer abgenommen — » Sie atmete durch zusammengebissene Zähne ein. «Um zu sehen, ob die Leitung frei ist. Das ist alles.»
«Und dann hast du dich hingesetzt und zugehört! Du hast gelauscht! Obwohl wir wieder und wieder darüber gesprochen haben, dass wir das niemals tun würden!»
«Gary», sagte sie mit kläglich kleiner Stimme, «ich schwöre, dass ich nicht gelauscht habe. Mein Rücken bringt mich um. Ich konnte den Arm nicht ausstrecken, um wieder aufzulegen. Ich habe den Hörer auf dem Boden liegen lassen. Ich hab nicht gelauscht. Sei lieb, bitte.»
Dass ihr Gesicht wunderschön war und man den gequälten Ausdruck darauf mit Ekstase verwechseln konnte — dass sie Gary, wie sie da zusammengekrümmt und schlammbespritzt und rotwangig und besiegt und mit wilder Mähne auf dem Perserteppich lag, scharfmachte, dass ein Teil von ihm ihren Beteuerungen glaubte und voll Zärtlichkeit für sie war — , all das verstärkte nur sein Gefühl, verraten worden zu sein. Er stürmte über den Flur zurück in sein Arbeitszimmer und knallte die Tür hinter sich zu. «Mutter, hallo, es tut mir Leid.»
Aber die Leitung war tot. Jetzt musste er auf eigene Rechnung in St. Jude anrufen. Durch das Fenster, das auf den Garten hinausging, sah er sonnenbeschienene, muschelschalenrote Regenwolken, aus der Platane aufsteigenden Dunst.
Nun, da nicht mehr sie das Gespräch bezahlte, klang Enid heiterer. Sie fragte Gary, ob er eine Firma namens Axon kenne. «Die sitzen in Schwenksville, Pennsylvania», sagte sie. «Sie wollen Dads Patent kaufen. Hier, ich lese dir mal den Brief vor. Ich bin nicht ganz glücklich damit.»
Bei der CenTrust Bank, wo Gary mittlerweile die Investmentabteilung leitete, war er seit langer Zeit auf große, an der Börse gehandelte Unternehmen spezialisiert und gab sich kaum noch mit kleinen Fischen ab. Der Name Axon sagte ihm nichts. Doch als seine Mutter ihm den Brief vorlas, den Mr. Joseph K. Prager von Bragg Knuter & Speigh geschrieben hatte, meinte er, das Spiel dieser Leute zu durchschauen. Es war klar, dass der Anwalt, der diesen Brief aufgesetzt und ihn an einen alten Mann mit einer Adresse im Mittelwesten geschickt hatte, Alfred nur einen Bruchteil dessen anbot, was das Patent tatsächlich wert war. Gary wusste, wie diese Winkeladvokaten arbeiteten. An Axons Stelle hätte er dasselbe getan.
«Ich finde, wir sollten zehntausend verlangen, nicht fünf-», sagte Enid.
«Wann erlischt das Patent?», fragte Gary.
«In ungefähr sechs Jahren.»
«Sie müssen mit sehr viel Geld rechnen. Sonst würden sie sich um das Patent gar nicht scheren.»
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