Als er das zweite Paar Abzüge mit den gleichen gelben Klecksen aus dem Fixierbad nahm, wusste Gary, dass er es für heute besser sein lassen sollte. Aber da klopfte es an der Außentür, und sein jüngster Sohn Jonah schlüpfte durch den Verdunkelungsvorhang.
«Du ziehst Fotos ab?», fragte Jonah.
Gary faltete die misslungenen Abzüge hastig zweimal zusammen und vergrub sie im Abfalleimer. «Hab gerade erst angefangen.»
Er mischte seine Lösungen neu und öffnete einen zweiten Karton Papier. Jonah setzte sich neben eine Dunkelkammerlampe und flüsterte vor sich hin, während er die Seiten eines der Narnia-Bücher umblätterte, Prinz Kaspian von Narnia, das Garys Schwester Denise ihm geschenkt hatte. Jonah ging in die zweite Klasse, aber als Leser hatte er schon das Niveau eines Fünftklässlers erreicht. Oft sprach er die geschriebenen Worte in einem artikulierten Flüsterton, der typisch für die ganze narnische Liebenswürdigkeit seines Wesens war, vor sich hin. Er hatte strahlende dunkle Augen, eine Oboenstimme und wieselweiches Haar, und selbst Gary sah in ihm bisweilen mehr ein sensibles Tier als einen kleinen Jungen.
Caroline mochte die Chroniken von Narnia nicht besonders — C. S. Lewis war ein notorischer katholischer Propagandist, und Aslan, der narnische Held, eine Christusgestalt mit Fell und Pfoten — , doch Gary hatte den König von Narnia als Junge gern gelesen und war, das konnte wohl als gesichert gelten, trotzdem kein religiöser Spinner geworden. (Vielmehr ein strikter Materialist.)
«Sie töten also einen Bären», berichtete Jonah, «aber es ist kein sprechender Bär, und Aslan kommt zurück, aber nur Lucy sieht ihn, und die anderen glauben ihr nicht.»
Gary tauchte die Abzüge mit der Pinzette ins Unterbrecherbad. «Warum glauben sie ihr nicht?»
«Weil sie die Jüngste ist», sagte Jonah.
Draußen, im Regen, hörte man Caroline lachen und rufen. Sie hatte den Hang, sich völlig zu verausgaben, um mit den Jungen mitzuhalten. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sie ganztags als Anwältin gearbeitet, doch nach Calebs Geburt war sie durch eine Erbschaft zu Geld gekommen, und seitdem arbeitete sie nur noch halbtags, für ein philanthropisch geringes Gehalt, beim Kinderhilfswerk Children's Defense Fund. Ihr eigentliches Leben kreiste um die Jungen. Sie nannte sie ihre besten Freunde.
Vor sechs Monaten, am Vortag von Garys dreiundvierzigstem Geburtstag, waren, während er mit Jonah seine Eltern in St. Jude besuchte, zwei Monteure gekommen und hatten, als Geburtstagsüberraschung von Caroline, im Obergeschoss der Garage neue Strom- und Wasserleitungen verlegt und alles frisch verputzt. Gary hatte gelegentlich davon gesprochen, von den alten Familienfotos, die ihm die liebsten waren, Abzüge zu machen und sie in einem ledergebundenen Album zu sammeln: die zweihundert definitiven Lamberts. Aber die Bilder hätte ihm auch ein Fotogeschäft abgezogen, und inzwischen brachten die Jungen ihm bei, mit Bildverarbeitungsprogrammen umzugehen, und wenn er trotzdem einmal ein Labor gebraucht hätte, wäre es immer noch möglich gewesen, stundenweise eines zu mieten. Und so war ihm — nachdem Caroline ihn an seinem Geburtstag zur Garage geführt und ihm die Dunkelkammer gezeigt hatte, die er weder wollte noch brauchte — spontan zum Heulen zumute gewesen. Aus populärpsychologischen Büchern auf Carolines Nachttisch hatte er jedoch gelernt, die Warnsignale der klinischen Depression zu erkennen, und eines dieser Warnsignale, darin stimmten alle Experten überein, war die Neigung, in unpassenden Momenten zu weinen, und so hatte er den Kloß in seinem Hals hinuntergeschluckt, war in der teuren Dunkelkammer umhergesprungen und hatte Caroline (die sowohl die Reue des Käufers als auch die Unsicherheit des Schenkenden durchlitt) lautstark versichert, wie hellauf begeistert er sei! Und hatte dann, um sich selbst zu beweisen, dass von einer klinischen Depression keine Rede sein konnte, und um sicherzugehen, dass Caroline nichts dergleichen argwöhnte, beschlossen, zweimal die Woche in der Dunkelkammer zu arbeiten, bis das Album der zweihundert definitiven Lamberts fertig war.
Der Verdacht, Caroline habe ihn, bewusst oder nicht, aus dem Haus verbannen wollen, indem sie die Dunkelkammer in der Garage einrichtete, war ein weiteres Leitsymptom seiner Paranoia.
Als die Stoppuhr klingelte, legte er das dritte Paar Abzüge ins Fixierbad und machte wieder Licht.
«Was sind das für helle Flecken?», fragte Jonah, der in die Schale spähte.
«Ich weiß es auch nicht, Jonah!»
«Die sehen wie Wolken aus», sagte Jonah.
Der Fußball knallte gegen die Seitenwand der Garage.
Gary ließ die missmutige Enid und den grinsenden Alfred in der Fixierlösung und öffnete die Fensterläden. Seine Schuppentanne und das Bambusdickicht gleich daneben glitzerten vom Regen. Mitten im Garten standen Caroline und Aaron in durchnässten, schmutzigen Trikots, die ihnen an den Schulterblättern klebten, und japsten nach Luft, während Caleb sich einen Schuh zuband. Caroline hatte, mit fünfundvierzig, die Beine einer Studentin. Ihr Haar war heute fast genauso blond wie damals, vor zwanzig Jahren, als Gary sie bei einem Bob-Seger-Konzert im Spectrum kennengelernt hatte. Körperlich fühlte sich Gary noch immer stark von seiner Frau angezogen, ihr unangestrengt gutes Aussehen, ihr Quäker-Blut reizten ihn nach wie vor. Aus einem alten Reflex griff er nach der Kamera und richtete das Teleobjektiv auf sie.
Der Ausdruck von Carolines Gesicht erschreckte ihn. Da war etwas Gequältes auf ihrer Stirn, eine Leidensfurche um ihren Mund. Als sie wieder dem Ball nachjagte, humpelte sie.
Gary schwenkte die Kamera auf seinen ältesten Sohn, Aaron, den man am besten unbemerkt fotografierte, bevor er seinen Kopf in jene befangene Schräghaltung brachte, die ihm seiner Meinung nach am meisten schmeichelte. Aarons Gesicht im Nieselregen war gerötet und schmutzbesprenkelt, und Gary drehte am Zoom, um einen schönen Bildausschnitt hinzukriegen. Doch der Groll gegen Caroline legte seine neurochemische Abwehr lahm.
Das Fußballspiel war jetzt zu Ende, und sie lief und humpelte zum Haus.
Lucy vergrub ihren Kopf in seiner Mähne, damit er sie nicht sehen konnte, flüsterte Jonah.
Aus dem Haus kam ein Schrei.
Caleb und Aaron reagierten sofort, indem sie wie Actionfilm-Helden über den Rasen galoppierten und im Nu drinnen verschwanden. Einen Augenblick später tauchte Aaron wieder auf und rief mit seiner neuerdings zur Brüchigkeit neigenden Stimme: «Dad! Dad! Dad! Dad!»
Wenn andere hysterisch wurden, wurde Gary besonnen und ruhig. Er verließ die Dunkelkammer und stieg langsam die regenglatten Stufen hinab. In dem Stück Himmel über den Gleisen der Pendlerstrecke hinter der Garage arbeitete sich das Licht durch die feuchte Luft, als wolle es, sich selbst übertreffend, einen Frühlingsschauer zustande bringen.
«Dad, Grandma ist am Telefon!»
Gary schlenderte durch den Garten und blieb stehen, um die Wunden zu beklagen, die das Fußballspiel dem Rasen zugefügt hatte. Chestnut Hill, das Viertel, in dem sie wohnten, war nicht ganz unnarnisch. Jahrhundertealte Ahornbäume und Ginkgos und Platanen, viele davon verstümmelt, weil Platz für Starkstromleitungen gebraucht wurde, wucherten gewaltig über ausgebesserte und wieder ausgebesserte Straßen, die die Namen dezimierter Indianerstämme trugen. Seminole und Cherokee, Navajo und Shawnee. Im Umkreis vieler Kilometer gab es trotz hoher Bevölkerungsdichte und stattlicher Pro-Kopf-Einkommen keine Schnellstraßen und kaum nützliche Geschäfte. «Das von der Zeit vergessene Land», nannte Gary diese Gegend. Die meisten Häuser hier, einschließlich seines eigenen, waren aus einem Schieferstein gebaut, der an unbearbeitetes Blech erinnerte und genau die Farbe seines Haars hatte.
«Dad!»
«Danke, Aaron, ich hab's gehört.»
Читать дальше