«Sie waren ein Dissident», sagte Chip.
«Ja! Ja! Dissident!» Er steckte seinen Arm wieder in den Ärmel. «Es war entsetzlich, toll. Sehr anstrengend, aber das hab ich kaum gemerkt. Die Erschöpfung kam erst später.»
Wenn Chip an 1990 zurückdachte, erinnerte er sich an Tudordramen, an nicht enden wollende, fruchtlose Streitereien mit Tori Timmelman, an die heimliche, ungesunde Beschäftigung mit gewissen von Toris Texten, die die entmenschlichenden Aspekte der Pornografie veranschaulichten: Sehr viel mehr war da nicht gewesen.
«So, und deshalb schrecke ich ein bisschen davor zurück, mir das hier anzuschauen», sagte Gitanas. Auf seinem Computerbildschirm war das dämmrige Schwarz-Weiß-Foto eines von oben aufgenommenen Betts zu sehen, in dem sich unter den Decken ein Körper abzeichnete. «Der Hausmeister sagt, sie hat einen Freund, und ich hab mir ein bisschen was runtergeladen. Ich hatte noch die Überwachungsanlage vom Vorbesitzer drin. Bewegungsmelder, Infrarot, digitale Standbilder. Schauen Sie sich's an, wenn Sie wollen. Könnte interessant sein. Vielleicht auch heiß.»
Chip erinnerte sich sehr gut an den Rauchmelder, der an Julias Schlafzimmerdecke hing. Oft genug hatte er zu ihm hinaufgestarrt, bis ihm die Mundwinkel ausgetrocknet und die Augen nach hinten weggerollt waren. Er hatte das Gerät immer sonderbar kompliziert gefunden.
Jetzt richtete er sich ein wenig auf. «Vielleicht sollten Sie sich die lieber nicht anschauen.»
Gitanas hantierte sehr geschickt mit Maus und Tastatur. «Ich drehe den Bildschirm weg. Sie brauchen nicht hinzusehen.»
Rauchgewitterwolken ballten sich in den Gängen. Chip beschloss, dass er eine Muratti brauchte, doch wie sich zeigte, war es fast gleichgültig, ob er inhalierte oder Luft holte.
«Was ich meine», sagte er und verdeckte den Bildschirm mit der Hand, «ist, dass Sie die CD vielleicht lieber wieder rausnehmen sollten, anstatt sie sich anzuschauen.»
Gitanas war überrascht. «Warum sollte ich sie mir nicht anschauen?»
«Tja — denken wir doch mal darüber nach.»
«Vielleicht sollten Sie es mir sagen.»
«Nein, also, denken wir einfach bloß mal darüber nach.»
Einen Augenblick hatte die Stimmung etwas Wildvergnügtes. Gitanas musterte Chips Schulter, Knie und Handgelenk, als überlege er, wo er ihn beißen solle. Dann holte er die CD heraus und warf sie ihm ins Gesicht. «Scheißkerl!» «Ich weiß.»
«Packen Sie das Ding weg. Scheißkerl. Ich will es nie wieder sehen. Packen Sie's weg.»
Chip steckte die CD in seine Hemdtasche. Es ging ihm gar nicht schlecht. Es ging ihm ganz passabel. Das Flugzeug hatte inzwischen seine Reiseflughöhe erreicht, und sein Geräusch hatte etwas von dem stetigen, vagen weißen Brennen trockener Nebenhöhlen, der Farbe abgestoßener Plastikfenster, dem Geschmack kalten, bleichen Kaffees aus wieder verwendbaren Klapptisch-Tassen. Die nordatlantische Nacht war dunkel und einsam, aber hier, im Flugzeug, gab es Lichter am Himmel. Hier gab es Geselligkeit. Es war gut, wach zu sein und Wachheit rings um sich zu spüren.
«Also, was ist, haben Sie auch Zigaretten-Brandwunden?», fragte Gitanas.
Chip zeigte ihm seine Handfläche. «Nichts Schlimmes.»
«Selbst zugefügt. Sie armseliger Amerikaner, Sie.»
«Andere Art Gefängnis», sagte Chip.
JE MEHR ER DARÜBER NACHDACHTE, DESTO WÜTENDER WURDE ER
GARY LAMBERTSprofitable Liaison mit der Axon Corporation hatte drei Wochen früher begonnen, an einem Sonntagnachmittag, den er in seiner neuen Farbdunkelkammer verbrachte, aufrichtig bemüht, Vergnügen am Abziehen zweier alter Fotografien seiner Eltern zu finden und, indem er tatsächlich Vergnügen daran fand, fürs Erste nicht mehr an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln.
Gary sorgte sich viel um seine geistige Gesundheit, doch als er am besagten Nachmittag aus seinem großen schiefergedeckten Haus an der Seminole Street trat und durch seinen großen Garten ging und die Außentreppe seiner großen Garage hinaufstieg, war das Wetter in seinem Kopf so warm und freundlich wie draußen, im Nordwesten Philadelphias. Die Septembersonne schien durch ein Gemisch aus Dunst und kleinen, grau gekielten Wolken, und soweit Gary seine Neurochemie überhaupt zu begreifen und nachzuvollziehen vermochte (schließlich war er Abteilungsleiter bei der CenTrust Bank und kein Seelenklempner, vergessen wir das nicht), schienen ihm alle seine Hauptindikatoren einigermaßen stabil.
Obwohl Gary den aktuellen Trend zur individuellen Gestaltung von Altersgeldanlagen und Ferngesprächstarifen und privaten Bildungsoptionen im Prinzip begrüßte, war er alles andere als begeistert, auch die Verantwortung für seine persönliche Hirnchemie aufgehalst zu bekommen, zumal gewisse Menschen in seinem Leben, namentlich sein Vater, sich rundweg weigerten, eine solche Verantwortung zu übernehmen. Doch wenn man von Gary eines sagen konnte, dann das: Er war pflichtbewusst. Als er die Dunkelkammer betrat, schätzte er, dass sein Neurofaktor 3 (also Serotonin, ein sehr, sehr wichtiger Faktor) seit sieben, wenn nicht gar dreißig Tagen einen Höchststand verzeichnete, dass die Performance von Faktor 2 und Faktor 7 ebenfalls die Erwartungen übertraf und dass sich sein Faktor 1 von einem Tief am frühen Morgen, ausgelöst durch ein Glas Armagnac vor dem Schlafengehen, inzwischen erholt hatte. Er ging mit federndem Schritt, war sich seiner überdurchschnittlichen Körpergröße und seiner Spätsommerbräune aufs Angenehmste bewusst. Sein Groll gegen Caroline, seine Frau, hielt sich in wohlkontrollierten Grenzen. Die Leitsymptome seiner Paranoia (d. h. des hartnäckigen Verdachts, dass Caroline und seine beiden älteren Söhne sich über ihn lustig machten) zeigten mehr fallende als steigende Tendenz, und seine jahreszeitlich angepassten Gedanken zur Sinnlosigkeit und Kürze des Lebens korrespondierten mit dem robusten Allgemeinzustand seiner geistigen Ökonomie. Er war nicht das kleinste bisschen klinisch depressiv.
Er zog die samtenen Verdunkelungsvorhänge zu und schloss die lichtundurchlässigen Fensterläden, nahm einen Karton 10 x 15-Papier aus dem großen Stahlkühlschrank und schob zwei Zelluloidstreifen in den mechanischen Negativreiniger — einen aufreizend schweren kleinen Apparat.
Die Bilder seiner Eltern, von denen er Abzüge machen wollte, stammten aus der unglückseligen Dekade ehelichen Golfspiels. Eines zeigte Enid in einem tiefen Rough, wie sie, den Oberkörper vorgebeugt, missmutig durch die Sonnenbrille in die flirrende Herzland-Hitze blickte, mit der linken Hand den Schaft ihres leidgeprüften Holzes 5 umklammernd, während der rechte Arm verwackelt war, weil sie ihren Ball (ein weißer, verwischter Fleck am Rand des Fotos) heimlich auf den Fairway warf. (Sie und Alfred hatten immer nur auf flachen, geraden, kurzen, billigen öffentlichen Golfplätzen gespielt.) Auf dem anderen Foto sah man, wie Alfred, bekleidet mit engen Shorts, einer Midland-Pacific-Schirmmütze, schwarzen Socken und prähistorischen Golfschuhen, seinen prähistorischen Holz-Driver auf eine weiße, grapefruitgroße Tee-Markierung richtete und in die Kamera grinste, als wolle er dem Betrachter bedeuten: Einen so großen Ball könnte ich schlagen!
Nachdem Gary den Abzügen ihr saures Fixierbad verabreicht hatte, machte er wieder Licht und stellte fest, dass beide mit einem Netz aus seltsamen gelben Klecksen überzogen waren.
Er fluchte leise, nicht, weil ihm die Fotos so wichtig waren, sondern weil er seine gute Laune, seine serotoningesättigte Stimmung behalten wollte, und dazu brauchte er von der Welt der Gegenstände ein Minimum an Kooperation.
Das Wetter draußen gerann. Ein Geriesel war in den Rinnsteinen, und auf dem Dach, dort wo Äste überhingen, ein Getrommel von Tropfen. Durch die Wände der Garage hörte Gary, während er zwei weitere Abzüge machte, Caroline und die Jungen im Garten Fußball spielen. Er hörte Laufschritte und Ballgeräusche, seltener Rufe, das seismische Donnern von Ball auf Garage.
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