Sie sah jetzt alles deutlicher, vor allem ihre Kinder. Als Gary ein paar Monate nach dem katastrophalen Weihnachtsfest wieder in St. Jude vorbei schaute, diesmal mit Jonah, war der Besuch von Anfang bis Ende eine einzige Freude für sie. Gary wollte immer noch, dass sie das Haus verkaufte, aber er konnte ihr nicht mehr damit kommen, dass Alfred über kurz oder lang die Treppe hinunterfallen und sich das Genick brechen würde, und außerdem hatte Chip in der Zwischenzeit viele der Arbeiten, die, solange sich niemand ihrer angenommen hatte, Garys zweites Argument für den Verkauf des Hauses gewesen waren (Korbmöbelanstreichen, Rohreabdichten, Abflüssereinigen, Rissekitten), erledigt. Wie gehabt zankten sich Gary und Enid über Geld, doch das war bloß ein Zeitvertreib. Gary saß ihr wegen der $4,96, die sie ihm für die sechs Fünfzehn-Zentimeter-Bolzen noch immer «schuldete», im Nacken, und sie konterte mit der Frage: «Ist deine Armbanduhr neu?» Ja, die Rolex sei ein Weihnachtsgeschenk von Caroline, gab er zu, aber erst kürzlich habe er mit einer Biotech-Aktie, die er nicht vor dem 15. Juni wieder abstoßen könne, ziemlichen Schiffbruch erlitten, und überhaupt gehe es hier ums Prinzip, Mutter, ums Prinzip. Enid aber weigerte sich, aus Prinzip, ihm die $ 4,96 zu geben. Sie freute sich an dem Gedanken, dass sie ihm das Geld für die Bolzen bis an ihr Lebensende nicht zurückzahlen würde. Welche Biotech-Aktie es denn sei, mit der er so einen Schiffbruch erlitten habe, fragte sie Gary. Das spiele keine Rolle, sagte er.
Kurz nach Weihnachten zog Denise nach Brooklyn und begann in einem neuen Restaurant zu arbeiten, und im April schickte sie Enid zum Geburtstag ein Flugticket. Enid bedankte sich und sagte, sie könne nicht kommen, sie könne Alfred auf gar keinen Fall allein lassen, das sei einfach nicht recht. Dann fuhr sie doch und verbrachte vier herrliche Tage in New York City. Denise wirkte im Vergleich zu Weihnachten so viel glücklicher, dass Enid beschloss, sich nicht darum zu scheren, dass sie immer noch keinen Mann hatte, geschweige denn den geringsten Wunsch erkennen ließ, einen zu finden.
Zurück in St. Jude, war Enid eines Nachmittags zum Bridge spielen bei Mary Beth Schumpert, als Bea Meisner anhob, ihrem christlichen Missfallen über eine berühmte «lesbische» Schauspielerin Luft zu machen.
«Sie ist doch ein schreckliches Vorbild für junge Leute», sagte Bea. «Wenn man in seinem Leben schon eine gottlose Entscheidung trifft, dann sollte man sich, finde ich, wenigstens nicht auch noch damit brüsten. Vor allem, wo es heutzutage alle möglichen Kurse gibt, in denen solche Leute Hilfe bekommen.»
Enid, die in diesem Rubber Beas Partnerin war und sich sowieso schon ärgerte, weil Bea auf ihre Zweier-Eröffnung nicht reagiert hatte, merkte milde an, sie glaube nicht, dass «Lesbierinnen» etwas dafür könnten, «lesbisch» zu sein.
«O doch, es ist eindeutig Willenssache», sagte Bea. «Es ist eine Schwäche, und die zeigt sich schon in der Pubertät. Gar kein Zweifel. Da sind sich alle Experten einig.»
«Dieser Krimi, in dem die Freundin von ihr und Harrison Ford die Hauptrollen spielen, war phantastisch», sagte Mary Beth Schumpert. «Wie hieß der noch gleich?»
«Ich glaube nicht, dass es Willenssache ist», sagte Enid ruhig.
«Chip hat mal etwas sehr Interessantes zu mir gesagt. Er sagte, wenn so viele Leute Homosexuelle hassen und auf dem Kieker haben, warum sollte sich da irgendjemand ohne Not dafür entscheiden, homosexuell zu sein? Ich fand, das war wirklich ein interessanter Gesichtspunkt.»
«Ach was, nein, die wollen doch bloß besondere Rechte haben», sagte Bea. «Die wollen ihren. Das ist der Grund, warum sie von so vielen abgelehnt werden, auch unabhängig davon, wie unsittlich ihr Verhalten ist. Es genügt ihnen nicht, eine gottlose Entscheidung zu fällen. Sie müssen sich auch noch damit brüsten.»
«Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal einen richtig guten Film gesehen habe», sagte Mary Beth.
Enid war keine Verfechterin «alternativer» Lebensformen, und was ihr an Bea Meisner missfiel, missfiel ihr schon seit vierzig Jahren. Sie hätte nicht sagen können, warum gerade dieses Bridgetisch-Gespräch sie zu dem Entschluss führte, nicht länger mit Bea Meisner befreundet sein zu müssen. Genauso wenig hätte sie sagen können, warum Garys Materialismus, Chips Versagen und Denise' Kinderlosigkeit, die sie über die Jahre ungezählte nächtliche Stunden des Grübelns und Richtens gekostet hatten, ihr so viel weniger zu schaffen machten, seit Alfred aus dem Haus war.
Was sicher dazu beitrug, war, dass ihr alle drei Kinder unter die Arme griffen. Insbesondere Chip wirkte auf geradezu wundersame Weise verwandelt. Nach Weihnachten blieb er ganze sechs Wochen bei Enid und besuchte Alfred jeden Tag, bevor er nach New York zurückkehrte. Einen Monat später war er, ohne seine grässlichen Ohrringe, schon wieder in St. Jude. Er schlug ihr vor, seinen Aufenthalt auf eine Länge auszudehnen, die Enid ebenso erfreute wie verblüffte, bis sich herausstellte, dass er sich mit der Chefärztin der neurologischen Station an der St.-Luke's-Klinik angefreundet hatte.
Die Neurologin, Alison Schulman, war eine kraushaarige und ziemlich unscheinbare junge Jüdin aus Chicago. Enid fand sie sogar recht nett, aber es war ihr ein Rätsel, was eine erfolgreiche junge Ärztin an ihrem Sohn, der keiner geregelten Tätigkeit nachging, finden mochte. Noch rätselhafter wurde das Ganze, als Chip ihr im Juni verkündete, er werde nach Chicago umziehen, wo er mit Alison, die sich in eine Gemeinschaftspraxis in Skokie eingekauft hatte, in einem unmoralischen eheähnlichen Verhältnis zusammenleben wollte. Weder bestätigte noch leugnete Chip, dass er keine feste Anstellung und auch nicht die Absicht hatte, einen Teil der Haushaltskosten mitzutragen. Er behauptete, er arbeite an einem Drehbuch. Er sagte, «seine» Produzentin in New York habe seine «neue» Fassung «großartig» gefunden und ihn gebeten, sie noch einmal umzuschreiben. Die einzige Tätigkeit, bei der er etwas verdiente, war, soweit Enid wusste, ein Teilzeitjob als Aushilfslehrer. Enid war ihm wirklich dankbar, dass er einmal im Monat von Chicago nach St. Jude gefahren kam und lange Tage bei Alfred verbrachte; sie war glücklich, eines ihrer Kinder wieder bei sich im Mittelwesten zu wissen. Doch als Chip ihr mitteilte, dass er und Alison, eine Frau, mit der er nicht einmal verheiratet war, Zwillinge erwarteten, und Enid dann zu einer Hochzeit einlud, bei der die Braut im siebten Monat schwanger war und die gegenwärtige «Arbeit» des Bräutigams darin bestand, dass er zum vierten oder fünften Mal sein Drehbuch umschrieb, und die Mehrzahl der Gäste nicht nur ausgesprochen jüdisch waren, sondern das glückliche Paar geradezu hinreißend fanden, da herrschte für Enid ganz gewiss kein Mangel an Dingen, über die sie die Nase hätte rümpfen und den Stab hätte brechen können! Und es machte sie wirklich nicht stolz, nein, sie fand, es sprach wirklich nicht für ihre fast fünfzigjährige Ehe, dass sie, wäre Alfred mit ihr zusammen auf der Hochzeit gewesen, in der Tat die Nase gerümpft und in der Tat den Stab gebrochen hätte. Wenn sie neben Alfred gesessen hätte, wäre die Menge die auf sie zugesteuert kam, beim Anblick ihres säuerlichen Gesichtsausdrucks bestimmt gleich wieder abgedreht, und dann wäre sie bestimmt nicht mitsamt ihrem Stuhl hochgehoben und zu den Klängen der Klezmer-Musik durch den ganzen Raum getragen worden und hätte das alles bestimmt nicht so genossen.
Die traurige Tatsache schien die zu sein, dass das Leben ohne Alfred im Haus für alle besser war außer für Alfred. Hedgpeth und die anderen Ärzte einschließlich Alison Schulman, hatten, indem sie Orfic Midlands bald-schon-ehemalige Krankenversicherung nach Herzenslust zur Kasse baten, den alten Mann den ganzen Januar über und bis in den Februar hinein im Krankenhaus behalten und gründlich geprüft, welche Behandlungsmethode, von der Elektroschocktherapie bis zu Haldol, für ihn geeignet sei. Schließlich wurde Alfred mit der Diagnose Parkinson, Demenz, Depression sowie Nervenleiden der Beine und des Harnsystems entlassen. Enid fühlte sich moralisch verpflichtet anzubieten, dass sie ihn zu Hause pflegen würde, doch Gott sei Dank wollten ihre Kinder nichts davon wissen. Alfred wurde im Deepmire Home untergebracht, einem Langzeit-Pflegeheim gleich neben dem Country Club, und Enid machte es sich zur Aufgabe, ihn jeden Tag zu besuchen, sich um seine Kleidung zu kümmern und ihn mit hausgemachten Leckerbissen zu versorgen.
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