All das nahm Chip zwischen zwei Herzschlägen in sich auf. Den Kontinent, sein Heimatland. Im ganzen Wohnzimmer verstreut waren Nester geöffneter Geschenke, kleine Häufchen Geschenkbänder und Papierfetzen und Weihnachtsaufkleber. Zu Füßen des Kaminsessels, den Alfred stets für sich beanspruchte, kniete, neben dem größten Geschenkenest, Denise.
«Denise, sieh nur, wer da ist», sagte Enid.
Mit gesenkten Lidern stand Denise, wie aus Pflichtgefühl, auf und durchquerte das Zimmer. Doch sobald sie die Arme um ihn gelegt und er sie (immer aufs Neue überrascht, wie groß sie war) an sich gedrückt hatte, wollte sie ihn nicht mehr loslassen. Sie klammerte sich an ihn — küsste seinen Hals, sah ihm in die Augen und dankte ihm.
Gary kam herüber und umarmte Chip hölzern, mit abgewandtem Gesicht. «Hätte nicht gedacht, dass du's schaffen würdest», sagte er.
«Ich auch nicht», sagte Chip.
«Na!», sagte Alfred wieder und blickte ihn voller Verwunderung an.
«Gary muss um elf Uhr weg», sagte Enid, «aber wir können noch alle zusammen frühstücken. Du machst dich schnell frisch, und Denise und ich kümmern uns ums Frühstück. Ach, das ist genau das, was ich mir gewünscht habe», sagte sie, als sie in die Küche eilte. «Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe!»
Gary wandte sich, mit seiner Ich-Blödmann-Grimasse, Chip zu: «Da hörst du's», sagte er. «Das schönste Weihnachtsgeschenk, das sie je bekommen hat.»
«Ich glaube, sie meint, dass wir alle fünf zusammen sind», sagte Denise.
«Tja, dann sollte sie's lieber schnell genießen», sagte Gary. «Sie schuldet mir nämlich noch ein Gespräch, und ich bestehe auf Zahlung.»
Von seinem eigenen Körper losgelöst, trottete Chip ihm hinterher und fragte sich, was er wohl vorhatte. Er nahm einen Aluminiumhocker aus der Dusche im unteren Bad. Der Wasserschwall war stark und heiß. Seine Eindrücke hatten etwas so Frisches, dass er sie entweder sein Leben lang in Erinnerung behalten oder auf der Stelle vergessen würde. Ein Gehirn konnte nur eine bestimmte Anzahl von Eindrücken verkraften, bevor es die Fähigkeit verlor, sie zu entschlüsseln, sie in eine verständliche Form und Reihenfolge zu bringen. Seine beinahe schlaflose Nacht auf einem Stück Flughafenteppich zum Beispiel lebte noch in ihm fort und wollte verarbeitet werden. Und hier nun eine heiße Dusche am Weihnachtsmorgen. Hier die vertrauten braunen Kacheln der Dusche. Die Kacheln, wie jeder andere materielle Bestandteil des Hauses, waren davon durchdrungen, dass sie Enid und Alfred gehörten, waren gesättigt mit einer Aura Lambert'schen Familieneigentums. Das Haus war einem Körper ähnlicher als einem Gebäude — weicher, sterblicher und organischer.
Denise' Shampoo hatte die angenehmen, feinen Duftnoten des westlichen Spätkapitalismus. In den Sekunden, die Chip zum Einseifen seiner Haare brauchte, vergaß er, wo er war. Vergaß den Kontinent, vergaß das Jahr, vergaß die Tageszeit, vergaß die Umstände. Unter der Dusche war sein Gehirn ein Fisch- oder Amphibiengehirn, registrierte Eindrücke, reagierte auf den Moment. Es fehlte nicht viel, und er hätte Todesangst verspürt. Gleichzeitig fühlte er sich ganz passabel. Er hatte Appetit auf Frühstück und, insbesondere, Durst auf Kaffee.
Mit einem Handtuch um die Hüften schaute er kurz ins Wohnzimmer, wo Alfred sofort auf die Füße sprang. Der Anblick von Alfreds plötzlich gealtertem Gesicht, dessen fortschreitendem Verfall, den Rötungen und Asymmetrien, schnitten Chip ins Fleisch wie eine Bullenpeitsche.
«Na!», sagte Alfred. «Das ging ja schnell.»
«Kann ich mir ein paar Sachen zum Anziehen von dir ausleihen?»
«Das überlasse ich dir.»
Oben, im Kleiderschrank seines Vaters, fand Chip die alten Nassrasur-Utensilien, Schuhlöffel, elektrischen Rasierapparate, Schuhleisten und Schlipshaken allesamt an ihren angestammten Plätzen. In den fünfzehnhundert Tagen seit seinem letzten Besuch in diesem Haus hatten sie hier Stunde für Stunde ihren Dienst getan. Einen Moment lang war Chip wütend (wie hätte er es auch nicht sein können?), dass seine Eltern niemals umgezogen waren. Dass sie einfach beschlossen hatten, hier zu bleiben und zu warten.
Er nahm sich Unterwäsche, Socken, eine Wollhose, ein weißes Hemd und eine graue Strickjacke und trug die Sachen in das Zimmer, das er in den Jahren zwischen Denise' Ankunft in der Familie und Garys Aufbruch ins College mit seinem Bruder geteilt hatte. Gary hatte eine winzige Reisetasche auf «sein» Bett gestellt und war dabei, sie zu packen.
«Ich weiß nicht, ob du's gemerkt hast», sagte er, «aber Dad ist in ziemlich schlechter Verfassung.» «Ja, hab ich gemerkt.»
Gary legte eine kleine Schachtel auf Chips Nachttisch. Es war eine Schachtel Munition — .20er Schrotkugeln.
«Er hat sie sich zusammen mit dem Gewehr in die Werkstatt geholt», sagte Gary. «Hab ich heute Morgen entdeckt, und ich dachte mir, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.»
Chip musterte die Schachtel und sagte instinktiv: «Ist das nicht eher Dads Sache?»
«Das habe ich gestern auch erst gedacht», sagte Gary. «Aber wenn er es wirklich tun will, hat er ja noch andere Möglichkeiten. Heute Nacht sollen es um die minus 18 Grad werden. Da kann er doch mit einer Flasche Whiskey nach draußen gehen. Ich möchte nicht, dass Mom ihn mit weggeblasenem Kopf findet.»
Darauf wusste Chip nichts zu erwidern. Schweigend zog er die Kleider des alten Mannes an. Hemd und Hose waren wunderbar sauber und passten ihm unerwartet gut. Als er auch die Strickjacke anhatte, war er überrascht, dass seine Hände nicht zu zittern begannen, überrascht, ein so junges Gesicht im Spiegel zu sehen.
«Und was hast du in letzter Zeit so getrieben?», fragte Gary.
«Ich habe einem litauischen Freund geholfen, westliche Investoren zu betrügen.»
«Mein Gott, Chip. Das kann nicht dein Ernst sein.»
Alles andere auf der Welt mochte fremd sein, doch Garys Herablassung ärgerte Chip wie eh und je.
«Streng moralisch betrachtet», sagte er, «habe ich mehr Verständnis für Litauen als für amerikanische Investoren.»
«Du willst ein Bolschewik sein?», fragte Gary und machte den Reißverschluss seiner Tasche zu. «Gut, dann sei ein Bolschewik. Aber ruf nicht bei mir an, wenn du verhaftet wirst.»
«Das läge mir sowieso fern», sagte Chip.
«Seid ihr zwei da oben so weit, dass wir frühstücken können?», trällerte Enid auf halber Treppe.
Sie hatte eine festliche Leinendecke aufgelegt. Die Tischmitte war mit einem Gesteck aus Kiefernzapfen, weißer und grüner Stechpalme, roten Kerzen und silbernen Glöckchen geschmückt. Denise trug das Essen auf: texanische Pampelmuse, Rühreier, Speck, außerdem Stollen und Brot, die sie selbst gebacken hatte.
Die Schneedecke verstärkte das helle Prärielicht.
Nach alter Familiensitte saß Gary allein auf einer Seite des Tisches. Auf der anderen Seite saßen Chip und Denise — Denise neben Enid, Chip neben Alfred.
«Fröhliche, fröhliche, fröhliche Weihnachten!», sagte Enid und schaute jedem ihrer Kinder der Reihe nach in die Augen.
Alfred, den Kopf gesenkt, aß bereits.
Auch Gary fing, mit einem Blick auf seine Armbanduhr, hastig zu essen an.
Chip hatte fast vergessen, wie trinkbar der Kaffee in diesen Breiten war. Denise fragte ihn, wie er nach Hause gekommen sei. Er erzählte ihr die Geschichte, nur den bewaffneten Raubüberfall ließ er aus.
Mit missbilligendem Stirnrunzeln verfolgte Enid jede von Garys Bewegungen. «Nun schling doch nicht so», sagte sie. «Du musst erst um elf los.»
«Eigentlich habe ich Viertel vor gesagt», sagte Gary. «Jetzt ist es kurz nach halb, und wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen.»
«Nun sind wir endlich alle zusammen», sagte Enid. «Lass uns das in Ruhe genießen.»
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