«Denise», sagte Enid. «Schau doch mal nach, ob er im Keller ist.»
Denise fragte nicht Warum ich? obwohl sie es gern getan hätte. Sie stellte sich an die Kellertreppe und rief nach ihrem Vater. Unten war Licht, und aus der Werkstatt hörte sie ein rätselhaftes leises Rascheln.
«Dad?», rief sie noch einmal.
Keine Antwort.
Ihre Angst beim Hinabsteigen in den Keller war wie eine Angst aus jenem unglücklichen Jahr ihrer Kindheit, als sie sich ein Haustier gewünscht und einen Käfig mit zwei Hamstern bekommen hatte. Ein Hund oder eine Katze hätte womöglich Enids Stoffe beschädigt, aber diese kleinen Hamster, ein Geschwisterpaar aus einem Wurf im Driblett-Haus, waren erlaubt.
Jeden Morgen, wenn Denise in den Keller ging, um ihnen Kügelchen und frisches Wasser zu geben, fürchtete sie sich davor zu entdecken, mit welcher über Nacht ausgeheckten Teufelei die Tiere sie, und speziell sie, diesmal quälen würden: einem Nest blinder, zappelnder, inzestroter Nachkommen vielleicht oder einem einzigen großen, in einem verzweifelten, sinnlosen Akt aufgeschichteten Haufen Zedernspäne, neben dem das Elternpaar zitternd auf dem nackten Metall des Käfigbodens hockte, aufgedunsen und verlegen, weil es alle seine Jungen aufgefressen hatte, was auch im Maul eines Hamsters keinen angenehmen Nachgeschmack hinterlassen haben konnte.
Die Tür zu Alfreds Werkstatt war geschlossen. Sie klopfte an. «Dad?»
Alfreds Antwort kam prompt, ein angestrengtes, ersticktes Bellen: «Nicht reinkommen!»
Hinter der Tür schabte irgendetwas Hartes über Beton.
«Dad? Was machst du da?»
«Nicht reinkommen, hab ich gesagt!»
Tja, sie hatte das Gewehr gesehen, und sie dachte: Klar, dass ausgerechnet ich hier unten bin. Sie dachte: Und ich habe keine Ahnung, was jetzt zu tun ist.
«Dad, ich muss reinkommen.»
«Denise — »
«Ich komme rein.»
Sie öffnete die Tür. Der Raum war gleißend hell. Mit einem einzigen Blick erfasste sie die alte, farbbekleckste Tagesdecke auf dem Boden und den alten Mann, der mit angehobener Hüfte und zitternden Knien auf dem Rücken lag, die weit aufgerissenen Augen starr auf die Unterseite der Werkbank gerichtet, während er mit dem großen Plastikklistier rang, das er sich in den After gesteckt hatte.
«Huch, Entschuldigung!», sagte sie und drehte sich, die Hände in der Luft, um.
Alfred atmete rasselnd und sagte nichts.
Sie zog die Tür halb hinter sich zu und füllte ihre Lungen. Oben klingelte es. Durch die Wände und die Decke hörte sie Schritte auf dem Weg vor dem Haus.
«Das ist er, das ist er!», rief Enid.
Lauter Gesang — «Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen» — ließ ihre Seifenblase platzen.
Denise gesellte sich zu ihrer Mutter und ihrem Bruder an der offenen Haustür. Bekannte Gesichter drängten sich auf der verschneiten Veranda zu einer Traube zusammen, Dale Driblett, Honey Driblett, Steve und Ashley Driblett, Kirby Root mit mehreren Töchtern und Bürstenschnitt-Schwiegersöhnen und der gesamte Person-Clan. Enid schnappte sich Denise und Gary und drückte sie fester an sich, und von der Stimmung des Augenblicks getragen, wippte sie auf den Ballen. «Lauf und hol Dad», sagte sie. «Er liebt die Weihnachtssänger so.»
«Dad hat zu tun», sagte Denise.
War es nicht das Barmherzigste, den Mann, der so rücksichtsvoll gewesen war, ihre Privatsphäre zu schützen, und nie um etwas anderes gebeten hatte, als dass man die seine achtete, ganz für sich allein leiden zu lassen, damit er sich, zu all seinem Leid, nicht auch noch schämen musste? Hatte er sich nicht mit jeder Frage, die er ihr nie gestellt hatte, das Recht erworben, von allen unbequemen Fragen, die sie ihm jetzt stellen könnte, verschont zu werden? Etwa: Was willst du mit dem Klistier, Dad?
Die Weihnachtssänger schienen in erster Linie für Denise zu singen. Enid wiegte sich zu der Melodie, Gary hatte feuchte Augen, doch Denise kam es vor, als wäre eigentlich sie gemeint. Gern wäre sie hier oben geblieben, beim heitereren Teil ihrer Familie. Sie wusste nicht, was es mit dem Unglück auf sich hatte, dass es ihr so viel Loyalität abverlangte. Als aber Kirby Root, der den Chor der Methodistenkirche in Chiltsville leitete, die letzte Strophe des Lieds nahtlos in «Vom Himmel hoch, da komm ich her» übergehen ließ, fragte sie sich, ob sie es sich nicht ein bisschen zu leicht machte. Alfred wollte allein gelassen werden? Schön, wie angenehm für sie! Dann konnte sie ja getrost nach Philadelphia zurückkehren, ihr eigenes Leben führen und tun, was er ihr geraten hatte. Es war ihm peinlich, mit einer Plastikspritze im Hintern erwischt zu werden? Schön, das traf sich gut! Ihr war es nämlich auch verdammt peinlich!
Sie machte sich von ihrer Mutter los, winkte den Nachbarn zum Abschied zu und ging wieder in den Keller. Die Tür zur Werkstatt stand noch immer halb offen. «Dad?»
«Nicht reinkommen!»
«Es tut mir Leid», sagte sie, «aber es geht nicht anders.»
«Es war nie meine Absicht, dich da hineinzuziehen. Nicht deine Sorge.»
«Ich weiß. Aber ich muss trotzdem reinkommen.»
Seine Haltung war fast unverändert, nur dass er sich inzwischen ein altes Badehandtuch zwischen die Beine gestopft hatte. Sie kniete sich inmitten der Scheiß- und Pissgerüche neben ihn und legte ihm eine Hand auf die bebende Schulter. «Es tut mir Leid», sagte sie.
Sein Gesicht war schweißgebadet. Seine Augen glänzten vor Irrsinn. «Such ein Telefon», sagte er, «und ruf den Bezirksleiter an.»
Die große Erleuchtung war Chip am Dienstagmorgen gegen sechs gekommen, als er in fast völliger Dunkelheit eine mit litauischem Kies belegte Straße zwischen den winzigen Ortschaften Neravai und Miskiniai, ein paar Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, entlangmarschierte.
Fünfzehn Stunden zuvor war er aus dem Flughafen gewankt und beinahe von Jonas, Aidaris und Gitanas, die ihren Ford Stomper schwungvoll an die Bordsteinkante lenkten, über den Haufen gefahren worden. Die drei Männer waren auf der Straße nach Ignalina unterwegs und schon fast aus Vilnius heraus gewesen, als sie im Radio gehört hatten, dass der Flughafen geschlossen worden war. Auf der Stelle hatten sie kehrtgemacht und waren zurückgefahren, um den armseligen Amerikaner zu retten. Der Laderaum des Stomper war mit Gepäck und Computern und telefonischer Ausrüstung voll gestopft, doch indem sie zwei Koffer auf dem Dach festschnallten, schafften sie Platz für Chip und seine Tasche. «Wir bringen Sie zu einem kleinen Grenzübergang», sagte Gitanas. «Die errichten im Augenblick Sperren auf allen großen Straßen. Wenn da ein Stomper vorbeikommt, fangen sie an zu sabbern.»
Dann war Jonas mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf situationsgemäß miserablen Straßen gen Westen gebraust, die Städte Jieznas und Alytus weiträumig umfahrend. Die Stunden waren im Stockdustern und unter Geschüttel dahingegangen. Nirgends sahen sie eine funktionierende Straßenlampe oder einen Polizeiwagen. Jonas und Aidaris saßen vorn und hörten Metallica, und Gitanas betätigte immer wieder die Tasten seines Funktelefons, in der schwachen Hoffnung, dass es Transbaltikum Mobil, dessen Hauptaktionär er, zumindest nominell, immer noch war, trotz des landesweiten Stromausfalls und trotz der Mobilisierung der litauischen Streitkräfte gelungen sein könnte, seine Relaisstationen wieder flottzumachen.
«Das Ganze ist eine Katastrophe für Vitkunas», sagte Gitanas. «Dass er die Streitkräfte mobilisiert, rückt ihn bloß noch mehr in die Nähe der Sowjets. Truppen auf den Straßen und keine Elektrizität: Damit macht sich eine Regierung beim litauischen Volk nicht gerade beliebt.»
«Wird eigentlich auch geschossen?», fragte Chip.
«Nein, das meiste ist reine Show. Eine zur Posse umgeschriebene Tragödie.»
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