Gegen Mitternacht bog der Stomper in der Nähe von Lazdijai, der letzten größeren Stadt vor der polnischen Grenze, um eine scharfe Kurve und fuhr an einem entgegenkommenden Konvoi dreier Jeeps vorbei. Jonas beschleunigte auf dem Knüppeldamm und beriet sich auf Litauisch mit Gitanas. Die Gletschermoränenlandschaft war hügelig, aber unbewaldet. Deshalb konnte man, wenn man sich umdrehte, sehen, dass zwei der Jeeps wendeten und die Verfolgung des Stomper aufnahmen. Ebenso konnte, wer in den Jeeps saß, sehen, dass Jonas jäh nach links auf eine Schotterstraße abbog und an der weißen Fläche eines zugefrorenen Sees entlangraste.
«Die hängen wir ab», versicherte Gitanas Chip, ungefähr zwei Sekunden bevor Jonas, in einer Ellbogenkurve, mit dem Stomper von der Straße abhob.
Wir haben einen Unfall, dachte Chip, während der Wagen durch die Luft flog. Er empfand im Rückblick große Sympathie für gute Bodenhaftung, niedrige Schwerpunkte und geradlinige Formen der Beschleunigung. Es war Zeit für stilles Nachdenken und Zeit zum Zähne zusammenbeißen und dann überhaupt keine Zeit, nur Aufprall nach Aufprall, Geräusch auf Geräusch. Der Stomper probierte verschiedene Varianten der Senkrechten aus — neunzig, zweihundertsiebzig, dreihundertsechzig, einhundert-achtzig Grad — und blieb schließlich, mit abgewürgtem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern, auf seiner linken Seite liegen. Chips Hüften und Brust fühlten sich an, als hätten sie von seinem Becken- und Schultergurt ernsthafte Quetschungen davongetragen. Ansonsten schien er, genau wie Jonas und Aidans, unversehrt.
Gitanas war hin und her geschleudert und von herumfliegenden Gepäckstücken hart getroffen worden. Er blutete aus Wunden an Kinn und Stirn. Eindringlich redete er mit Jonas, den er offenbar aufforderte, die Lichter auszumachen, doch es war schon zu spät. Auf der Straße hinter ihnen wurde lautstark heruntergeschaltet. Die Verfolgerjeeps hielten an der Ellbogenkurve, und uniformierte Männer mit Skimasken drängten ins Freie.
«Polizisten mit Skimasken», sagte Chip. «Ich gebe mir alle Mühe, das irgendwie positiv auszulegen.»
Der Stomper war in einen überfrorenen Sumpf gestürzt. In den sich kreuzenden Fernlichtkegeln zweier Jeeps umstellten ihn acht oder zehn maskierte «Polizeibeamte» und befahlen den Insassen auszusteigen. Als Chip die Tür über sich aufstieß, kam er sich wie ein Schachtelteufel vor. Jonas und Aidaris wurden die Waffen abgenommen. Alles, was sich im Wagen befand, landete auf der mit verharschtem Schnee und abgebrochenen Schilfhalmen bedeckten Erde. Ein «Polizist» drückte Chip eine Gewehrmündung in die Wange, und Chip empfing einen Ein-Wort-Befehl, den Gitanas übersetzte: «Er fordert Sie höflich auf, Ihre Kleider abzulegen.»
Der Tod, jener Verwandte aus Übersee, jener aus dem Mund stinkende Fremdenlegionär, war plötzlich ganz in der Nähe. Chip fürchtete sich ziemlich vor dem Gewehr. Seine Hände zitterten und wurden taub; er musste seine gesamte Willenskraft aufbieten, um sie dazu zu bewegen, Reißverschlüsse und Knöpfe zu öffnen. Es hatte ganz den Anschein, als ob seine hochwertige Lederkleidung daran schuld war, dass man gerade ihn für diese Demütigung auserkoren hatte. Niemand interessierte sich für Gitanas' rote Motocross-Jacke oder Jonas' Jeans. Um Chips Hose und Jacke hingegen drängten sich die maskierten «Polizisten» und befühlten deren feine Narbung. Mit seltsam dekontextualisierten Lippen Frost aus O-förmigen Mündern hauchend, prüften sie die Biegsamkeit seiner linken Stiefelsohle.
Ein Aufschrei war zu hören, als ein Bündel US- amerikanischer Devisen aus dem Stiefel fiel. Und wieder bohrte sich die Gewehrmündung in Chips Wange. Eisige Finger ertasteten den großen Umschlag mit Bargeld unter seinem T-Shirt. Die «Polizisten» prüften auch sein Portemonnaie, stahlen jedoch weder seine Litas noch seine Kreditkarten. Das Einzige, was sie wollten, waren Dollars.
Gitanas, an dessen Kopf an etlichen Stellen das Blut gerann, legte beim Hauptmann der «Polizisten» Protest ein. Die nun folgende Auseinandersetzung, in der Gitanas und der Hauptmann wiederholt auf Chip zeigten und die Wörter «Dollar» und «Amerikaner» gebrauchten, endete, als der Hauptmann seine Pistole auf Gitanas' blutige Stirn richtete und Gitanas die Hände hob, um einzuräumen, dass an dem, was der Hauptmann gesagt hatte, durchaus etwas dran sei.
Chips Schließmuskel hatte sich indessen so gelockert, dass man fast von bedingungsloser Kapitulation sprechen konnte. Es schien ihm jedoch von großer Wichtigkeit, dass er an sich hielt, und so stand er in Socken und Unterhose da und presste, so gut es mit seinen zitternden Händen ging, seine Pobacken zusammen. Presste und presste und bekämpfte die Krämpfe manuell. Wie lächerlich das aussah, war ihm egal.
Auch im Gepäck fanden die «Polizisten» vieles, was sich stehlen ließ. Chips Tasche wurde auf dem verschneiten Boden ausgeleert und sein Hab und Gut durchwühlt. Er und Gitanas mussten zuschauen, wie die «Polizisten» die Sitzpolster des Stomper aufschlitzten, Löcher in den Wagenboden hackten und Gitanas' Vorräte an Bargeld und Zigaretten entdeckten.
«Was ist hier eigentlich der Vorwand?», fragte Chip, immer noch heftig zitternd, aber auf dem besten Weg, die eigentlich entscheidende Schlacht zu gewinnen.
«Man wirft uns vor, Devisen und Tabak geschmuggelt zu haben», sagte Gitanas.
«Wer wirft uns das vor?»
«Ich fürchte, sie sind genau das, wonach sie aussehen», sagte Gitanas. «Mit anderen Worten: staatliche Polizisten mit Skimasken. Heute Nacht herrscht offenbar im ganzen Land so eine Art Fastnachtsatmosphäre. Eine Art Alles-ist-erlaubt-Stimmung.»
Es war ein Uhr morgens, als die «Polizisten» endlich in ihre Jeeps stiegen und davonrasten. Chip und Gitanas und Jonas und Aidaris ließen sie mit tiefgefrorenen Füßen, einem zertrümmerten Stomper, nassen Kleidern und beschädigtem Gepäck zurück.
Immerhin habe ich mir nicht in die Hosen geschissen, dachte Chip.
Er hatte noch seinen Pass und die $ 2.000 in der T-Shirt-Tasche, die die «Polizisten» übersehen hatten. Auch seine Sportschuhe, ein Paar weite Jeans, sein gutes Tweedsakko und sein Lieblingspullover waren noch da; all das zog er jetzt hastig an.
«Das dürfte das Ende meiner Karriere als krimineller Kriegsherr sein», bemerkte Gitanas. «Jedenfalls habe ich auf dem Gebiet keine weiteren Ambitionen.»
Mit Feuerzeugen inspizierten Jonas und Aidaris das Fahrgestell des Stomper. Aidaris verkündete das Urteil, Chip zuliebe, auf Englisch: «Truck fucked up.»
Gitanas bot Chip an, ihn zum Grenzübergang an der Straße nach Sejny, fünfzehn Kilometer Richtung Westen, zu begleiten, doch Chip war allzu bewusst, dass sich seine Freunde, wären sie nicht seinetwegen zum Flughafen zurückgefahren, vermutlich längst mit intaktem Auto und intakten Portemonnaies bei ihren Verwandten in Ignalina in Sicherheit befunden hätten.
«He», sagte Gitanas schulterzuckend. «Vielleicht wären wir auf der Straße nach Ignalina erschossen worden. Gut möglich, dass Sie uns das Leben gerettet haben.»
«Wagen im Arsch», wiederholte Aidaris mit Lust und Frust.
«Also dann, bis bald in New York», sagte Chip.
Gitanas setzte sich auf einen Siebzehn-Zoll-Monitor mit eingeschlagenem Bildschirm. Vorsichtig betastete er seine blutige Stirn. «Ja, genau. New York.»
«Sie können bei mir wohnen.»
«Ich überleg's mir.»
«Tun Sie's doch einfach», sagte Chip fast verzagt.
«Ich bin Litauer», sagte Gitanas.
Chip fühlte sich in einem Maße verletzt, enttäuscht und im Stich gelassen, wie es die Situation gar nicht rechtfertigte. Aber er beherrschte sich. Er nahm eine Straßenkarte, ein Feuerzeug, einen Apfel und die aufrichtigen guten Wünsche der Litauer entgegen und machte sich auf den Weg in die Dunkelheit.
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