Kaum war er allein, ging es ihm besser. Je länger er marschierte, desto mehr wusste er die Vorzüge seiner Jeans und Sportschuhe, im Vergleich zu seinen Stiefeln und Lederhosen, zu schätzen. Sein Schritt war leichter, sein Gang beschwingter; am liebsten wäre er die Straße hinuntergehüpft. Wie angenehm es war, in diesen Sportschuhen hier draußen unterwegs zu sein!
Aber seine große Erleuchtung war das noch nicht. Die große Erleuchtung kam ihm ein paar Kilometer vor der polnischen Grenze. Er horchte angestrengt, ob nicht irgendwelche mordlustigen Hofhunde in der ihn umgebenden Finsternis von der Kette gelassen worden waren, er streckte die Arme nach vorn, er kam sich mehr als nur ein bisschen lächerlich vor, da fiel ihm plötzlich Gitanas' Bemerkung wieder ein: eine zur Posse umgeschriebene Tragödie. Mit einem Schlag verstand er, warum niemand, nicht einmal er selbst, sein Drehbuch gemocht hatte: Er hatte einen Thriller geschrieben, wo eine Posse am Platz gewesen wäre.
Allmählich umfing ihn schwaches morgendliches Dämmerlicht. In New York hatte er so lange an den ersten dreißig Seiten von «Akademische Würden» geschliffen und gefeilt, bis er sich nahezu bildhaft an jedes einzelne Detail erinnern konnte, und nun rückte er, während sich der baltische Himmel aufhellte, seiner geistigen Rekonstruktion dieser Seiten mit einem geistigen Rotstift zu Leibe, machte hier einen kleinen Schnitt, fügte dort ein wenig mehr Emphase oder eine Hyperbel hinzu, und endlich wurden die Szenen in seinem Kopf zu dem, was sie schon immer hatten sein wollen: lächerlich. Der tragische BILL QUAINTENCE wurde zum Narren.
Chip beschleunigte seine Schritte, als hätte er es eilig, an einen Schreibtisch zu kommen, an dem er auf der Stelle mit der Überarbeitung seines Texts würde beginnen können. Er gelangte auf eine Anhöhe und sah die, ohne Strom, völlig im Dunkeln liegende litauische Stadt Eisiskes sowie, in weiterer Ferne jenseits der Grenze, ein paar Straßenlaternen in Polen. Zwei Zugpferde, die Köpfe über einen Stacheldrahtzaun reckend, wieherten ihm optimistisch zu.
Er sagte laut: «Zieh es ins Lächerliche. Zieh es ins Lächerliche.»
Zwei litauische Zollbeamte und zwei «Polizisten» bewachten den winzigen Grenzübergang. Sie gaben Chip seinen Pass ohne das dicke Bündel Litas zurück, das er zwischen die Seiten gesteckt hatte. Aus keinem erkennbaren Grund außer kleinlicher Grausamkeit ließen sie ihn mehrere Stunden lang in einem überheizten Raum warten, während Betonmischfahrzeuge und Hühnerlaster und Radler kamen und wieder fuhren. Es war später Vormittag, als er die Grenze nach Polen zu Fuß überqueren durfte. In Sejny, ein paar Kilometer die Straße hinunter, kaufte er Zlotys und mit den Zlotys etwas zu essen. Die Läden waren gut bestückt, es war Weihnachtszeit. Die Männer der Stadt waren alt und sahen aus wie der Papst.
Mit drei LKWs und einem Taxi erreichte er am Mittwoch gegen Mittag den Warschauer Flughafen. Das erstaunlich apfelbäckige Personal am Ticketschalter der polnischen Fluggesellschaft LOT war hoch erfreut, ihn bedienen zu dürfen. LOT hatte für die Feiertage zusätzliche Maschinen bereitgestellt, um für die zigtausend polnischen Gastarbeiter, die aus dem Westen zu ihren Familien zurückfliegen wollten, gewappnet zu sein, und viele der Maschinen Richtung Westen waren nicht ausgebucht. Alle rotwangigen Mitarbeiterinnen trugen kleine Hüte wie Tambourmajoretten. Sie nahmen Chips Bargeld, gaben ihm ein Ticket und sagten Schnell.
So schnell er konnte, lief er zum Gate und stieg in eine 767, die dann vier Stunden lang auf der Startbahn stand, während Mechaniker ein möglicherweise fehlerhaftes Instrument im Cockpit überprüften und schließlich, widerstrebend, auswechselten.
Die Flugroute, nonstop, war ein großer Kreis, der sich bei der großen polnischen Stadt Chicago schloss. Chip schlief immer wieder ein, um zu vergessen, dass er Denise $ 20.500 schuldete, alle seine Kreditkarten überzogen waren und er weder einen Job noch die Aussicht hatte, einen zu finden.
Die gute Nachricht, nachdem er in Chicago den Zoll passiert hatte, war, dass zwei Autovermietungsfirmen noch geöffnet hatten. Die schlechte Nachricht, die er nach einer halben Stunde Schlangestehen erhielt, war, dass Leute mit überzogenen Kreditkarten keine Autos mieten konnten.
Er ging die Liste aller Fluggesellschaften im Telefonbuch durch, bis er eine fand — Prairie Hopper, nie gehört — , die am nächsten Morgen um sieben noch einen Platz in einer Maschine nach St. Jude hatte.
Inzwischen war es zu spät geworden, um in St. Jude anzurufen. Er suchte sich ein abgelegenes Stück Flughafenteppich zum Schlafen. Er begriff nicht, was sich zugetragen hatte. Er fühlte sich wie ein Stück Papier, das, einst mit verständlichen Sätzen beschrieben, in die Waschmaschine geraten war. Er fühlte sich aufgeraut, gebleicht und an den Falzen durchgescheuert. Im Halbschlaf träumte er von einzelnen Mündern und körperlosen Augen hinter Skimasken. Er hatte völlig aus dem Blick verloren, was er wollte, und da ein Mensch schließlich war, was er wollte, konnte man sagen: Er hatte sich selbst aus dem Blick verloren.
Wie merkwürdig daher, dass der alte Mann, der ihm am nächsten Morgen um halb zehn in St. Jude die Tür öffnete, offenbar genau wusste, wer er war.
Ein Stechpalmenkranz hing an der Tür. Schneehaufen und Besenspuren in gleichmäßigen Abständen säumten den Weg zum Haus. Die mittelwestliche Straße erschien dem Reisenden wie ein Wunderland aus Wohlstand und Eichen und erstaunlich viel verschenktem Platz. Der Reisende sah nicht, wie ein solcher Ort in einer Welt der Litauens und Polens existieren könnte. Dass der Graben, der zwischen diesen verschiedenen ökonomischen Voltspannungen lag, nicht einfach durch einen Energietransfer überbrückt werden konnte, war ein Beweis für den isolierenden Effekt politischer Grenzen. Die alte Straße mit ihrem Eichenholzrauch und den schneebedeckten, säuberlich gestutzten Hecken und vereisten Traufen kam ihm gefährdet vor. Wie ein Trugbild. Wie eine außergewöhnlich lebhafte Erinnerung an etwas, das geliebt und schon gestorben war.
«Na!», sagte Alfred mit leuchtendem Gesicht, als er Chips Hand in beide Hände nahm. «Wen haben wir denn da!»
Enid, die immer wieder Chips Namen rief, versuchte sich ins Bild zu drängeln, doch Alfred ließ Chips Hand nicht los. Er sagte es noch zweimal: «Wen haben wir denn da! Wen haben wir denn da!»
«Al, nun lass ihn doch reinkommen und die Tür zumachen», sagte Enid.
Chip stand zaudernd auf der Schwelle. Die Welt draußen war schwarz und weiß und grau und rein gefegt von frischer, kalter Luft; das verwunschene Innere des Hauses war voller Gegenstände und Gerüche und Farben, schwüler Luft, raumgreifender Persönlichkeiten. Er hatte Angst einzutreten.
«Komm rein, komm rein», quiekte Enid, «und mach die Tür zu.»
Um sich vor allen magischen Einflüssen zu schützen, sprach er im Stillen eine Zauberformel. Ich bleibe drei Tage und fahre dann nach New York zurück, ich suche mir einen Job, ich lege mindestens fünfhundert Dollar im Monat auf die Seite, bis ich schuldenfrei bin, und jeden Abend arbeite ich an meinem Drehbuch.
Die magische Kraft dieser Worte beschwörend, die jetzt alles waren, was er hatte, die erbärmliche Summe seiner selbst, trat er über die Schwelle.
«Du liebe Zeit, wie kratzig du bist, und wie du riechst», sagte Enid, als sie ihn küsste. «Und wo ist dein Koffer?»
«Der steht an einer Schotterstraße im westlichen Litauen.»
«Ich bin bloß froh, dass du heil nach Hause gekommen bist.»
Nirgends im ganzen litauischen Staatsgebiet gab es ein Zimmer wie das Lambert'sche Wohnzimmer. Nur in diesem Teil der Welt fand man so prächtige Wollteppiche, so große und solide gebaute und üppig gepolsterte Möbel in einem Zimmer, das ansonsten so schlicht und gewöhnlich war. Das Licht in den Holzrahmenfenstern, obwohl grau, strahlte Prärie-Gelassenheit aus; hier war im Umkreis von tausend Kilometern kein Meer, das die Lufthülle hätte stören können. Und der Wuchs der älteren Eichen, die sich nach diesem Himmel streckten, hatte einen Schmiss, eine Wildheit und einen Stolz noch aus einer Zeit lange vor der dauerhaften Besiedlung; die Kursivschrift ihrer Zweige erzählte von einer nicht eingezäunten Welt.
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