«Es wäre nett gewesen, wenn du mich gefragt hättest!»
«Weißt du, diese Eisenbahn ist ein richtig guter Zeitvertreib für mich. Man kann alle möglichen tollen Sachen dazukaufen.»
«Schön! Freut mich für dich!»
Gary blickte staunend auf die Lok in seiner Hand. «Ich hätte nie gedacht, dass ich die noch einmal wieder sehen würde.»
Als er fort war und Denise allein im Keller zurückgelassen hatte, ging sie mit einer Taschenlampe in Alfreds Labor, kniete sich zwischen die Yuban-Dosen und besah sich die Unterseite der Bank. Dort fand sie, verwischt, mit Bleistift gezeichnet, ein Herz von der Größe eines Menschenherzens:
Sie sackte zusammen, die Knie auf dem steinkalten Boden. Little Rock. Dienstalter. Einfacher, meinen Hut zu nehmen.
Gedankenverloren hob sie den Deckel einer Yuban-Dose an. Sie war bis zum Rand voll mit grelloranger, gegorener Pisse.
«O Mann», sagte sie zu der Schrotflinte.
Als sie in ihr Zimmer hinauf lief und sich Mantel und Handschuhe anzog, tat ihr am allermeisten ihre Mutter Leid, denn gleichgültig, wie oft und wie bitter Enid sich bei ihr beklagt hatte, nie hatte es Denise in den Kopf gewollt, dass das Leben in St. Jude zu einem solchen Albtraum geworden sein könnte; und welches Recht hatte man, einfach weiterzuatmen, ja, schlimmer noch, zu lachen und zu schlafen und sich das Essen schmecken zu lassen, wenn man sich nicht einmal vorzustellen vermochte, wie schwer das Leben eines anderen war?
Enid stand schon wieder an der Gardine des Esszimmerfensters und hielt Ausschau nach Chip.
«Ich gehe spazieren!», rief Denise, bevor sie die Eingangstür hinter sich zumachte.
Auf dem Rasen vor dem Haus lagen fünf Zentimeter Schnee. Im Westen brachen die Wolken auf; wilde Lidschatten-Schattierungen, von Lavendel bis Rotkehlcheneierblau, markierten die Schnittkante der jüngsten Kaltfront. Denise wanderte mitten auf den dämmrigen, von Spuren überzogenen Straßen entlang und rauchte, bis das Nikotin ihren Kummer betäubt hatte und sie klarer denken konnte.
Vermutlich hatte sich Don Armour, nachdem die Wroth-Brüder die Midland Pacific gekauft und mit dem Personalabbau begonnen hatten und ihm der Sprung nach Little Rock nicht geglückt war, an Alfred gewandt, um Beschwerde einzulegen. Vielleicht hatte er ihm gedroht, überall damit zu prahlen, dass er Alfreds Tochter herumgekriegt hatte, oder aber er war so dreist gewesen, auf seine Rechte als Quasimitglied der Lambert'schen Familie zu pochen; so oder so hatte Alfred ihm gesagt, er solle sich zum Teufel scheren. Dann war Alfred nach Hause gegangen und hatte einen Blick auf die Unterseite seiner Werkbank geworfen.
Denise war überzeugt, dass es zwischen Don Armour und ihrem Vater einen höchst unerfreulichen Wortwechsel gegeben hatte, doch ihr grauste davor, ihn sich auszumalen. Wie musste Don Armour sich dafür verachtet haben, dass er zum Chef vom Chef seines Chefs gekrochen kam und bettelte und flehte oder ihn erpresste, um mit der Eisenbahngesellschaft nach Little Rock gehen zu dürfen; wie musste sich Alfred von seiner Tochter, die für ihren Arbeitseifer noch kurz zuvor so gelobt worden war, verraten gefühlt haben; was für eine grässliche Wendung musste das ganze unerträgliche Gespräch genommen haben, als auf einmal klar wurde, dass Don Armour ihr seinen Schwanz in diese und jene sündige, gar nicht erregte Öffnung gesteckt hatte. Ihr grauste, wenn sie sich vorstellte, wie ihr Vater vor seiner Werkbank gekniet und das Bleistiftherz entdeckt hatte; ihr grauste bei dem Gedanken, dass Don Armours dreckige Anspielungen auf die prüden Ohren ihres Vaters getroffen waren; ihr grauste, wenn sie sich überlegte, wie tief es einen Mann von Alfreds Disziplin, einen Mann, der so viel Wert auf seine Privatsphäre legte, gekränkt haben musste, zu erfahren, dass Don Armour nach Belieben in seinem Haus herumgeschnüffelt und — gestöbert hatte.
Es war nie meine Absicht, dich in all das hineinzuziehen.
Und tatsächlich: Ihr Vater war aus der Eisenbahngesellschaft ausgeschieden. Er hatte seine Hand schützend über Denise' Privatsphäre gehalten. Hatte nie ein Sterbenswort von alledem zu ihr gesagt, nicht die leiseste Andeutung gemacht, dass sein Bild von ihr Schaden genommen hatte. Fünfzehn Jahre lang hatte sie die tadellos verantwortungsvolle und umsichtige Tochter gegeben, und die ganze Zeit hatte er gewusst, dass sie es nicht war.
Sie ahnte, dass ein gewisser Trost in diesem Gedanken lag, wenn es ihr nur gelang, ihn im Kopf zu behalten.
Als sie das Viertel ihrer Eltern hinter sich ließ, wurden die Häuser neuer und größer und kastenförmiger. Durch Fenster, die keine Mittelsprossen oder unechte Plastikmittelsprossen hatten, sah sie leuchtende Bildschirme, manche riesenhaft, manche winzig. Offenbar war jede Stunde des Jahres, selbst diese, eine gute Stunde, um auf einen Bildschirm zu starren. Denise knöpfte sich den Mantel auf und kehrte heim, eine Abkürzung über den Rasenplatz hinter ihrer alten Grundschule nehmend.
Sie hatte ihren Vater niemals wirklich gekannt. Wahrscheinlich hatte das keiner. Mit seiner Scheu und seiner Förmlichkeit und seinen tyrannischen Wutausbrüchen verteidigte er erbittert sein Inneres, und wer ihn liebte, wie sie es tat, begriff bald, dass er ihm keinen größeren Gefallen tun konnte, als seine Privatsphäre zu achten.
Alfred wiederum hatte gezeigt, dass er an sie glaubte, indem er sie so akzeptierte, wie sie sich gab: indem er es ablehnte, hinter ihrer Fassade herumzuschnüffeln. Am glücklichsten war sie, als seine Tochter, immer dann gewesen, wenn sie seinen Glauben an sie vor aller Welt rechtfertigen konnte: wenn sie ein reines Einser-Zeugnis mit nach Hause brachte; wenn sie mit ihren Restaurants Erfolg hatte; wenn die Kritiker sie lobten.
Besser, als ihr lieb war, verstand sie, was für ein Desaster es für ihn gewesen sein musste, vor ihren Augen das Bett zu nässen. Auf einem schnell abkühlenden Urinfleck zu liegen entsprach sicher nicht der Art, wie er in ihrer Gegenwart sein wollte. Sie kannten nur eine einzige gute Art des Miteinanders, und deren Tage waren gezählt.
So seltsam es klingen mochte — für Alfred war Liebe nicht eine Sache der Annäherung, sondern des Abstandhaltens. Ihr war das weniger fremd als Chip und Gary, und deshalb empfand sie für ihn eine ganz besondere Verantwortung.
Chip, der dumme Junge, glaubte, dass Alfred sich nur dann für seine Kinder interessierte, wenn sie Erfolg hatten. Er war so damit beschäftigt, sich missverstanden zu fühlen, dass ihm überhaupt nicht auffiel, wie sehr er seinen Vater missverstand. In Chips Augen bewies Alfreds Unvermögen, zärtlich zu sein, dass Alfred nicht begriff, oder sich gar nicht darum scherte, wer Chip war. Er sah nicht, was für alle anderen offensichtlich war: Wenn es einen einzigen Menschen auf der Welt gab, den Alfred nur um seiner selbst willen liebte, dann war es Chip. Denise hatte längst erkannt, dass sie Alfred nicht so nahe stand; abgesehen von Äußerlichkeiten und ihrem Leistungsdenken hatten sie wenig miteinander gemein. Chip war es, nach dem Alfred mitten in der Nacht gerufen hatte, obwohl er wusste, dass Chip gar nicht da war.
Ich habe dir das, so gut ich konnte, klar zu machen versucht, sagte sie, während sie den verschneiten Rasenplatz überquerte, zu ihrem Trottel von Bruder. Besser kann ich es nicht.
Das Haus, in das sie zurückkehrte, war voller Licht. Gary, vielleicht auch Enid, hatte auf dem Gehweg Schnee gefegt. Denise trat sich die Füße auf der Hanfmatte ab, da flog die Tür auf.
«Ach, du bist es», sagte Enid. «Ich dachte schon, es wäre Chip.»
«Nein. Bloß ich.»
Sie ging hinein und zog die Stiefel aus. Gary hatte ein Feuer angezündet und saß in dem Lehnstuhl direkt am Kamin, einen Stapel alter Fotoalben vor sich auf dem Boden.
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