Später in der Nacht führte sie ein heimliches Manöver zugunsten ihrer Mutter durch: Während Gary mit Alfred beschäftigt war, ging sie in sein Zimmer, griff in die Innentasche seiner Lederjacke, tauschte das Mexican A gegen eine Handvoll Advils aus und ließ Enids Droge an einem sichereren Ort verschwinden, bevor sie sich, brave Tochter, endlich schlafen legte. An ihrem zweiten Tag in St. Jude, wie am zweiten Tag jedes ihrer Besuche, wachte sie wütend auf. Die Wut war ein autonomes neurochemisches Phänomen; nicht einzudämmen. Beim Frühstück setzte ihr jedes Wort, das ihre Mutter sagte, zu. Die Rippchen und das Sauerkraut nach alter Sitte zuzubereiten und nicht nach jener modernen, die sie beim Generator entwickelt hatte, machte sie wütend. (So viel Fett, so ein Substanzverlust.) Die bradykinetische Schwerfälligkeit von Enids Elektroherd, die sie tags zuvor nicht weiter gestört hatte, machte sie wütend. Die unzähligen Kühlschrankmagneten, welpenhaft-rührend in ihrer Ikonographie und derart schwach haftend, dass man kaum die Tür öffnen konnte, ohne einen Schnappschuss von Jonah oder eine Postkarte aus Wien zu Boden sausen zu lassen, trieben sie an den Rand des Wahnsinns. Sie ging in den Keller, um den alten Zehnliterkochtopf zu holen, und die Unordnung in den Waschküchenschränken brachte sie zur Weißglut. Sie zerrte einen Mülleimer aus der Garage herein und fing an, ihn mit dem Kram ihrer Mutter zu füllen. Ganz bestimmt war das hilfreich für ihre Mutter, und so machte sich Denise mit Hingabe an die Arbeit. Sie warf die koreanischen Brechbeeren weg, die fünfzig am allerwertlosesten aussehenden Plastikblumentöpfe, die Sammlung Sanddollarscherben und das Bündel Silberdollarpflanzen, von denen alle Dollars abgefallen waren. Sie warf den Kranz aus goldbesprühten Kiefernzapfen weg, den jemand auseinander gerupft hatte. Sie warf den Brandy-Kürbis-«Aufstrich» weg, der einen rotzigen Graugrünton angenommen hatte. Sie warf die neolithischen Dosen Palmenherzen und Baby-Schrimps und chinesischen Miniaturmaiskolben weg, den trüben schwarzen Liter rumänischen Weins, dessen Korken verrottet war, die Flasche Mai-Tai-Mix aus der Nixon-Ära, an deren Hals sich eine schlammige Kruste gebildet hatte, die Kollektion von Paul-Masson-Chablis-Karaffen mit Spinnenbeinen und Mottenflügeln auf den Böden, die vollkommen verrostete Aufhängung eines längst entsorgten Mobiles. Sie warf die Einliterglasflasche Diätcola weg, die mittlerweile die Farbe von Blutplasma hatte, das verschnörkelte Töpfchen Kumquatrosinen, das inzwischen zu einer Phantasie aus steinernem Kandis und amorpher brauner Masse geworden war, die übel riechende Thermoskanne, deren zerbrochenes Innenglas beim Schütteln klirrte, den verschimmelten Achtelscheffel-Warenkorb voll ebenso übel riechender leerer Joghurtbecher, die durch Oxydation klebrig gewordenen, vor abgetrennten Mottenflügeln strotzenden Sturmlaternen, die verschwundenen Königreiche aus Blumenerde und Blumendraht, die noch im Zerbröseln und Verrosten brüderlich zusammenhielten…
Ganz hinten im Schrank, zwischen den Spinnweben an der Rückwand des untersten Regals, fand sie einen dicken, unfrankierten Briefumschlag, der nicht sehr alt aussah. Er war an die Axon Corporation, 24 East Industrial Serpentine, Schwenksville, PA adressiert. Der Absender war Alfred Lambert. Vorne auf dem Umschlag stand außerdem PER EINSCHREIBEN. In dem Möchtegern-Bad neben dem Labor ihres Vaters rauschte der Wasserkasten der Toilette, schwache schwefelige Gerüche hingen in der Luft. Die Tür zum Labor war offen, und Denise klopfte an.
«Ja», sagte Alfred.
Er stand vor dem Regal exotischer Metalle, dem Gallium und Wismut, und schnallte sich den Gürtel zu. Sie zeigte ihm den Umschlag, erzählte, wo sie ihn gefunden hatte.
Alfred drehte ihn in seinen zitternden Händen, als könne ihm so, wie durch Zauberkraft, eine Erklärung einfallen. «Ein Rätsel», sagte er.
«Darf ich ihn öffnen?»
«Ganz, wie du willst.»
Der Umschlag enthielt drei Ausfertigungen eines auf den 13. September datierten Lizenzvertrags, den Alfred unterschrieben und David Schumpert notariell beglaubigt hatte.
«Was hat dieser Brief auf dem Boden des Waschküchenschranks zu suchen?», fragte Denise.
Alfred schüttelte den Kopf. «Das musst du deine Mutter fragen.»
Sie stellte sich an den Fuß der Treppe und hob die Stimme. «Mom? Kannst du mal kurz runterkommen?»
Enid tauchte oben am Treppenabsatz auf und trocknete sich mit einem Geschirrhandtuch die Hände ab. «Was ist denn? Kannst du den Topf nicht finden?»
«Doch, den Topf hab ich gefunden, aber könntest du trotzdem mal runterkommen?»
Alfred, im Labor, hielt die Axon-Schriftstücke, ohne sie zu lesen, locker zwischen den Fingern. Enid erschien mit schuldbewusster Miene im Türrahmen. «Was ist?»
«Dad möchte wissen, warum dieser Umschlag im Wäscheschrank lag.»
«Gib her», sagte Enid. Sie riss Alfred die Schriftstücke aus der Hand und zerknüllte sie. «Das ist alles längst geregelt. Dad hat drei andere Exemplare des Vertrags unterschrieben, und sie haben uns postwendend einen Scheck zugesandt. Kein Grund zur Aufregung.»
Denise kniff die Augen zusammen. «Hattest du nicht gesagt, du hättest die hier abgeschickt? Als wir in New York waren, Anfang Oktober? Da hast du doch gesagt, du hättest die hier abgeschickt.»
«Das dachte ich auch. Aber sie sind in der Post verloren gegangen.»
«In der Post?»
Enid wedelte vage mit den Händen. «Na ja, ich dachte, ich hätte sie zur Post gebracht. Aber sie waren wohl im Schrank. Wahrscheinlich habe ich einen Stapel Briefe hier unten abgelegt, bevor ich zur Post gegangen bin, und dann ist der Umschlag rausgerutscht. Weißt du, ich kann nicht jede Kleinigkeit im Blick behalten. Es geht schon mal was verloren, Denise. Ich muss mich um den ganzen Haushalt kümmern, da geht schon mal was verloren.»
Denise nahm den Umschlag von Alfreds Werkbank. «Da steht ‹Per Einschreiben› drauf. Wenn du bei der Post warst, wie konntest du dann nicht bemerken, dass eine Sendung, die du per Einschreiben schicken wolltest, fehlte? Wie konntest du nicht bemerken, dass du keinen Zettel ausgefüllt hast?»
«Denise.» Alfreds Stimme hatte einen ärgerlichen Unterton. «Ist gut jetzt.»
«Ich kann mir das auch nicht erklären», sagte Enid. «Ich hatte damals viel um die Ohren. Mir ist das völlig schleierhaft, und damit hat sich's. Weil es keine Rolle spielt. Dad hat seine fünftausend Dollar ja bekommen. Es spielt keine Rolle.»
Sie knüllte die Lizenzverträge noch kleiner zusammen und verließ das Labor.
Ich kriege allmählich Garyitis, dachte Denise.
«Du solltest deiner Mutter nicht so zusetzen», sagte Alfred.
«Ich weiß. Tut mir Leid.»
Doch schon schrie Enid in der Waschküche auf, schrie im Tischtennisraum, kam zurück in die Werkstatt. «Denise», rief sie, «du hast den ganzen Waschküchenschrank auf den Kopf gestellt! Was in aller Welt machst du da?»
«Ich werfe Lebensmittel weg. Lebensmittel und anderes vergammeltes Zeug.»
«Gut, aber warum ausgerechnet jetzt? Wir haben doch noch das ganze Wochenende Zeit. Wenn du mir helfen willst, ein paar Schränke auszumisten — herrlich. Aber nicht heute. Lass uns nicht heute damit anfangen.»
«Die Lebensmittel sind verdorben, Mom. Wenn du sie zu lange stehen lässt, werden sie giftig. Anaerobe Bakterien sind tödlich.»
«Na schön, dann räum das jetzt noch zu Ende auf, aber die anderen Schränke nehmen wir uns am Wochenende vor. Heute haben wir nicht genug Zeit dafür. Ich möchte, dass du mit dem Essen vorankommst, damit alles fertig ist und du nicht mehr daran denken musst, und dann möchte ich unbedingt, dass du Dad bei seinen Übungen hilfst, wie du es versprochen hast!»
«Das mache ich noch.»
«Al», rief Enid an Denise vorbei, «Denise möchte dir nach dem Mittagessen bei deinen Übungen helfen!»
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