Ihre Kindheit verbrachte Patty im Westchester County, New York. Sie hat drei jüngere Geschwister, die dem, was ihre Eltern sich erhofft hatten, näherkamen als sie. Sie war um einiges größer als die anderen, noch dazu weniger besonders, noch dazu deutlich dümmer. Nicht wirklich dumm, aber vergleichsweise dümmer. Als sie ausgewachsen war, maß sie 1,76 m und damit ungefähr so viel wie ihr Bruder und etliche Zentimeter mehr als die beiden anderen, und manchmal wünschte sie, sie wäre noch auf 1,80 gekommen, denn in die Familie würde sie ja doch nie passen. Wenn sie den Korb besser hätte sehen und sich beim Angriff effektiver hätte anbieten oder in der Verteidigung schneller hätte rotieren können, vielleicht wäre ihr Konkurrenzdrang dann nicht ganz so verbissen gewesen und ihr Leben nach dem College glücklicher verlaufen; wahrscheinlich nicht, aber ein interessanter Gedanke war es schon. Später, als sie auf College-Ebene Basketball spielte, gehörte sie meistens zu den Kleineren auf dem Feld, was sie auf merkwürdige Weise an ihre Stellung in der Familie erinnerte und ihren Adrenalinspiegel auf dem Höchststand zu halten half.
Pattys erste Erinnerung an ein Mannschaftsspiel, bei dem ihre Mutter ihr zusah, ist zugleich eine ihrer letzten. Sie besuchte damals ein Sportcamp für gewöhnliche Sterbliche, das auf demselben Gelände stattfand, wo ihre beiden Schwestern an einem Kunstcamp für außergewöhnliche Sterbliche teilnahmen, und eines Tages erschienen ihre Mutter und ihre Schwestern zu den letzten Innings eines Softballspiels. Patty ärgerte sich, weil sie als Left Fielder untätig herumstand, während weniger begabte Mädchen Errors im Infield machten und sie daraufwartete, dass endlich mal jemand einen Ball weit schlagen würde. Nach und nach rückte sie immer weiter vor, und so endete das Spiel. Läuferinnen auf der ersten und zweiten Base. Die Schlagfrau traf den Ball so, dass er einmal aufsetzte und dann zu dem grauenhaft linkischen Mädchen auf der Shortstop-Position flog, aber Patty stürzte sich dazwischen und schnappte ihr den Ball vor der Nase weg, um selbst loszurennen, die vordere Läuferin abzuschlagen und dann die andere zu jagen, irgendein süßes Ding, das wahrscheinlich nur wegen eines Fielding Errors bis zur ersten Base gelangt war. Patty hielt direkt auf sie zu, bis sie kreischend ins Outfield rannte, also den Basepfad verließ, sodass sie automatisch out war, aber Patty verfolgte sie weiter und schlug sie ab, woraufhin sie sich krümmte und schrie, weil die leichte Berührung mit einem Handschuh offenbar so furchtbar wehgetan hatte.
Patty wusste, dass dies in puncto sportliche Fairness keine Sternstunde von ihr gewesen war. Irgendetwas war über sie gekommen, weil ihre Familie zugesehen hatte. Im Familienkombi fragte ihre Mutter sie mit noch zittrigerer Stimme als sonst, ob sie denn ganz so… aggressiv sein müsse. Ob sie denn wirklich, na ja, so aggressiv sein müsse. Wäre es so schlimm für Patty gewesen, den Ball auch mal an ihre Mannschaftskameradinnen abzugeben? Patty erwiderte, sie habe auf der linken Feldseite ÜBERHAUPT KEINEN Ball abgekriegt. Und ihre Mutter sagte: «Ich finde es ja in Ordnung, dass du Sport treibst, aber nur, wenn du dabei auch Gemeinschaftssinn und das Zusammenspiel mit anderen lernst.» Und Patty sagte: «Dann schick mich in ein RICHTIGES Camp, wo ich nicht die einzige gute Spielerin bin! Ich kann nicht mit Leuten zusammenspielen, die nicht in der Lage sind, den Ball zu fangen!» Und ihre Mutter sagte: «Ich weiß nicht, ob es ratsam ist, so viel Aggressivität und Konkurrenzdenken zu unterstützen. Gut, ich bin kein Sportfan, aber ich begreife nicht, wie es Spaß machen kann, jemand anderen nur um des Siegens willen zu besiegen. Wäre es nicht viel schöner, wenn alle zusammenwirken würden, um gemeinsam etwas aufzubauen?»
Pattys Mutter war eine Berufsdemokratin. Noch heute, zur Zeit der Niederschrift dieser Seiten, ist sie Abgeordnete in der Parlamentskammer des Staates New York, die Ehrenwerte Joyce Emerson, bekannt als Fürsprecherin von Grünanlagen, benachteiligten Kindern und der Kunst. Das Paradies ist für sie eine Grünanlage, in der sich benachteiligte Kinder aufhalten und auf Staatskosten künstlerisch betätigen können. Joyce wurde 1934 als Joyce Markowitz in Brooklyn geboren, aber Jüdin zu sein scheint ihr von Anbeginn ihres bewussten Lebens an missfallen zu haben. (Die Autobiographin fragt sich, ob einer der Gründe, warum die Stimme ihrer Mutter immer zittert, der ist, dass sie sich ihr Leben lang angestrengt hat, bloß nicht wie jemand aus Brooklyn zu klingen.) Joyce bekam ein Stipendium, um Geisteswissenschaften in den Wäldern von Maine zu studieren, wo sie Pattys über die Maßen nicht-jüdischen Vater kennenlernte, den sie in der All Souls Unitarian Universalist Church an der Upper East Side von Manhattan heiratete. Die Autobiographin ist der Meinung, dass Joyce für die Mutterrolle emotional noch nicht reif genug war, als sie ihr erstes Kind bekam, allerdings sollte die Autobiographin selbst in dieser Hinsicht wohl besser keine Steine werfen. Als Jack Kennedy i960 zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten nominiert wurde, hatte Joyce jedenfalls einen so ehrenhaften wie aufregenden Grund, das Haus, das mit Kindern zu füllen sie anscheinend nicht vermeiden konnte, Morgen für Morgen zu verlassen. Dann kamen die Bürgerrechtsbewegung, Vietnam und das Attentat auf Bobby Kennedy — noch mehr gute Gründe, außerhalb jenes Hauses zu weilen, das für vier kleine Kinder, plus eine barbadische Kinderfrau im Keller, nicht annähernd groß genug war. Joyce, die sich dem toten Bobby verpflichtet fühlte, nahm 1968 zum ersten Mal als Delegierte an einem Nominierungsparteitag teil. Sie wurde Bezirksschatzmeisterin und später Bezirksvorsitzende der Partei und organisierte 1972 und 1980 Teddys Wahlkampf. Jeden Sommer gingen von morgens bis abends Scharen von Freiwilligen mit Kisten voller Wahlkampfmaterialien bei ihnen ein und aus. Patty konnte sechs Stunden am Stück Dribbeln und Liegestütz trainieren, ohne dass irgendjemand es bemerkt oder sich darum geschert hätte.
Pattys Vater, Ray Emerson, war Anwalt und ein Amateurhumorist, dessen Repertoire Furzwitze und gemeine Parodien von Nachbarn, Freunden und den Lehrern seiner Kinder einschloss. Besonders gern triezte er Patty damit, dass er die Barbadierin Eulalie nachäffte, wenn diese eben außer Hörweite war: «Schluss jetzt mit die Spiele, Schluss mit die Quatsch», sagte er dann zum Beispiel, immer lauter und lauter, bis Patty gekränkt vom Tisch aufsprang und ihre Geschwister vor Begeisterung kreischten. Grenzenlosen Spaß verhieß es auch, Pattys Trainerin und Mentorin Sandy Mosher zu verulken, die er meistens Saaaandra nannte. Ständig fragte er Patty, ob Saaaandra in letzter Zeit nicht irgendwelchen Herrenbesuch empfangen habe oder vielleicht, hihi, hihi, doch eher Damenbesuch? Ihre Geschwister skandierten: Saaaandra, Saaaandra! Eine andere lustige Methode, Patty zuzusetzen, bestand darin, den Familienhund Elmo zu verstecken und vorzugeben, Elmo sei eingeschläfert worden, während Patty beim abendlichen Basketballtraining gewesen sei. Oder Patty wegen bestimmter Irrtümer, die ihr vor Jahren einmal unterlaufen waren, auf die Schippe zu nehmen — sie etwa zu fragen, wie es denn den Kängurus in Austrien gehe und ob sie den neuen Roman der berühmten zeitgenössischen Autorin Louisa May Aleott schon gesehen habe und ob sie immer noch glaube, Pfifferlinge gehörten ins Reich der Tiere. «Ich habe neulich einen von Pattys Pfifferlingen einen Lkw jagen sehen», sagte ihr Vater etwa. «Schaut mal, schaut mal her zu mir, so jagt Pattys Pfifferling einen Lkw.»
An den meisten Abenden ging ihr Vater nach dem Essen noch einmal aus dem Haus, um sich mit armen Leuten zu treffen, die er für wenig oder gar kein Geld vor Gericht vertrat. Sein Büro lag dem Gerichtsgebäude in White Plains gegenüber. Zu den Mandanten, die seine Dienste umsonst in Anspruch nahmen, gehörten Puerto-Ricaner, Haitianer, Transvestiten und geistig oder körperlich Behinderte. Manche von ihnen steckten in so schlimmen Schwierigkeiten, dass er nicht mal mehr hinter ihrem Rücken über sie herzog; aber soweit es irgend möglich war, fand er ihre Probleme amüsant. In der zehnten Klasse hörte Patty im Rahmen eines Schulprojekts bei zwei Verhandlungen zu, an denen ihr Vater beteiligt war. Bei der einen ging es um einen arbeitslosen Mann aus Yonkers, der am Puerto Rican Day zu viel getrunken hatte und sich dann auf die Suche nach dem Bruder seiner Frau begab, um ihn mit dem Messer abzustechen, ihn aber nicht fand und stattdessen in einer Kneipe einen Fremden attackierte. Nicht nur ihr Vater, sondern auch der Richter und sogar der Staatsanwalt schienen von der Glücklosigkeit und Blödheit des Angeklagten amüsiert zu sein. Immer wieder ging ein Beinahe-Augenzwinkern zwischen ihnen hin und her. Als wären Not, Versehrung und Haftstrafen bloß Unterschichts-Kabinettstückchen, allesamt dazu da, ihren ansonsten langweiligen Tag etwas aufzupeppen.
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