«Ich werde einfach nie wieder etwas trinken», sagte sie, «und damit ist das Problem gelöst.»
«Für dich vielleicht», sagte Trainerin Nagel, «aber nicht für andere. Sieh dir deine Arme an. Sieh dir an, was er mit dir gemacht hat. Das wird er auch mit anderen machen, wenn du ihn nicht daran hinderst.»
«Es sind doch bloß blaue Flecken und Kratzer.»
Trainerin Nagel hielt ihr einen Motivationsvortrag, der darauf hinauslief, dass man für seine Mannschaftskameradinnen einstehen müsse, womit in diesem Fall alle jungen Frauen gemeint waren, denen Ethan je begegnen würde. Das Fazit lautete, Patty solle den Kopf für die Mannschaft hinhalten, Anzeige erstatten und Trainerin Nagel erlauben, Ethans Privatschule in New Hampshire zu informieren, damit man ihn dort hinauswerfen und ihm das Abschlusszeugnis verweigern könne, andernfalls lasse sie ihre Mannschaft hängen.
Patty fing wieder an zu weinen, weil sie im Prinzip lieber gestorben wäre, als die Mannschaft hängenzulassen. Im Winter hatte sie einmal, trotz Grippe, fast eine ganze Basketballhalbzeit durchgespielt, bevor sie an der Seitenlinie zusammengeklappt war und intravenös versorgt werden musste. Das Problem war nun, dass sie den Abend gar nicht zusammen mit ihrer Mannschaft verbracht hatte. Vielmehr war sie mit ihrer Feldhockey-Freundin Amanda, deren Seele anscheinend keinen Frieden finden konnte, ehe sie Patty nicht dazu gebracht hatte, Pina Colada zu probieren, auf die Party bei den McCluskys gegangen, wo es, so war versprochen worden, eimervoll davon gab. El ron me puso loca. Keins der anderen Mädchen am Pool der McCluskys war Sportlerin gewesen. Ihre eigentliche, wahre Mannschaft hatte Patty fast schon dadurch betrogen, dass sie überhaupt hingegangen war. Und dafür war sie nun bestraft worden. Ethan hatte keins der Partymädchen vergewaltigt, er hatte Patty vergewaltigt, weil sie nicht dorthin gehörte, ja nicht einmal wusste, wie man richtig trank.
Sie versprach Trainerin Nagel, über die Sache nachzudenken.
Es war ein Schock, ihre Mutter in der Sporthalle zu sehen, und offenbar auch ein Schock für ihre Mutter, dass sie sich selber auf einmal dort wiederfand. Sie trug ihre Alltagspumps und erinnerte, während sie so dastand und ihren Blick unsicher über die Geräte aus blankem Metall und die pilzigen Böden und die in Netzen steckenden Balltrauben schweifen ließ, an Goldlöckchen im dunklen Wald. Patty ging zu ihr und ließ sich umarmen. Da ihre Mutter viel kleiner und zierlicher war als sie, kam Patty sich ein wenig wie eine Standuhr vor, die Joyce anzuheben und wegzutragen versuchte. Sie machte sich los und führte Joyce in Trainerin Nagels kleines, mit einer Glaswand abgetrenntes Büro, damit die unvermeidliche Besprechung stattfinden konnte.
«Hallo, ich bin Jane Nagel», sagte Trainerin Nagel.
«Ja, wir — wir sind uns schon begegnet», sagte Joyce.
«Ach ja, stimmt, einmal sind wir uns schon begegnet», sagte Trainerin Nagel.
Zusätzlich zu ihrer angestrengten Sprechweise hatte Joyce eine angestrengt korrekte Haltung, und sie verfügte über ein maskenhaftes freundliches Lächeln, das für fast alle Gelegenheiten, ob öffentlich oder privat, geeignet war. Da sie nie, auch nicht im Zorn, die Stimme erhob (wenn sie wütend war, wurde ihre Stimme nur noch zittriger und angespannter), konnte sie ihr freundliches Lächeln jederzeit aufsetzen, selbst in Momenten eines qualvollen Konflikts.
«Nein, öfter als einmal», sagte sie jetzt. «Wir sind uns schon mehrmals begegnet.»
«Wirklich?»
«Ganz sicher.»
«Das habe ich anders in Erinnerung», sagte Trainerin Nagel. «Ich warte dann mal draußen», sagte Patty und schloss hinter sich die Tür.
Die Mutter-Trainerin-Besprechung dauerte nicht lange. Schon bald kam Joyce auf klappernden Absätzen heraus und sagte: «Lass uns gehen.»
Trainerin Nagel, die hinter Joyce im Türrahmen stand, warf Patty einen bedeutsamen Blick zu. Der Blick hieß so viel wie: Vergiss nicht, was ich über den Mannschaftsgeist gesagt habe.
Joyces Wagen stand als letzter noch auf einem der Quadranten des Besucherparkplatzes. Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn aber nicht herum. Patty fragte sie, was jetzt passieren werde.
«Dein Vater ist in der Kanzlei», sagte Joyce. «Wir fahren direkt zu ihm.»
Aber sie drehte den Schlüssel nicht herum. «Es tut mir leid», sagte Patty.
«Was ich nicht verstehe», stieß ihre Mutter hervor, «ist, wie eine so hervorragende Sportlerin wie du — ich meine, wie konnte Ethan oder wer immer es war — »
«Ethan. Es war Ethan.»
«Wie konnte überhaupt jemand — oder Ethan», sagte sie. «Du sagst, es war ziemlich eindeutig Ethan. Wie konnte — wenn es Ethan war — wie konnte er überhaupt…?» Ihre Mutter hielt sich die Finger vor den Mund. «Ach, ich wünschte, es wäre irgendjemand anders gewesen. Dr. Post und seine Frau sind so gute Freunde von — so gute Freunde von so vielen guten Dingen. Und ich kenne Ethan nicht näher, aber — »
«Ich kenne ihn fast gar nicht!»
«Wie konnte das denn dann passieren!»
«Lass uns einfach nach Hause fahren.»
«Nein. Du musst mir antworten. Ich bin deine Mutter.»
Joyce wirkte verlegen, als sie sich das sagen hörte. Anscheinend merkte sie, wie sonderbar es klang, Patty daran zu erinnern, wer ihre Mutter war. Und Patty wiederum war froh, dass dieser Zweifel endlich klar zutage trat. Wenn Joyce ihre Mutter war, wieso war sie dann nicht zur ersten Runde des staatlichen Turniers gekommen, bei dem Patty den bis dahin für die Mädchenturniere der Horace Greeley High School geltenden Korbrekord gebrochen und zweiunddreißig Punkte erzielt hatte? Irgendwie hatten die Mütter aller anderen doch auch die Zeit gefunden, sich das Spiel anzusehen. Sie zeigte Joyce ihre Handgelenke.
«Das ist passiert», sagte sie. «Ich meine, das ist ein Teil von dem, was passiert ist.»
Joyce warf einen Blick auf ihre blauen Flecken, schauderte und wandte sich dann ab, als wollte sie Pattys Intimsphäre respektieren. «Das ist furchtbar», sagte sie. «Du hast recht. Das ist furchtbar.»
«Trainerin Nagel sagt, ich soll zur Notaufnahme fahren und die Polizei und Ethans Schuldirektor verständigen.»
«Ja, ich weiß, was deine Trainerin möchte. Sie scheint zu glauben, dass Kastration eine angemessene Strafe wäre. Ich möchte vor allem wissen, was du denkst.»
«Ich weiß nicht, was ich denke.»
«Wenn du jetzt zur Polizei gehen möchtest», sagte Joyce, «dann tun wir das. Du musst mir nur sagen, ob du das möchtest.»
«Vielleicht sollten wir erst Dad fragen.»
Und los ging es, den Saw Mill Parkway hinunter. Joyce chaufherte Pattys Geschwister permanent irgendwohin, wenn sie Malen, Gitarre, Ballett, Japanisch, Debattieren, Theater, Klavier, Fechten oder simulierte Gerichtsverhandlungen hatten, aber Patty wurde nur noch selten von Joyce gefahren. An den Wochentagen kam sie meistens sehr spät mit dem Sportbus nach Hause. Nach einem Spiel nahm die Mutter oder der Vater einer Mannschaftskameradin sie mit. Wenn sie und ihre Freundinnen doch mal strandeten, machte sie sich gar nicht erst die Mühe, ihre Eltern anzurufen, sondern griff gleich auf die Nummer der Taxizentrale von Westchester und einen der Zwanzigdollarscheine zurück, die sie, weil ihre Mutter es so wollte, immer bei sich hatte. Nie kam es ihr in den Sinn, die Zwanziger für etwas anderes als Taxis auszugeben oder nach einem Spiel noch woandershin zu fahren als direkt nach Hause, wo sie abends um zehn oder elf Aluminiumfolie von ihrem Essen pulte und in den Keller ging, um ihr Trikot in die Waschmaschine zu stecken, und dann saß sie da unten und aß und schaute sich im Fernsehen Wiederholungen an. Oft schlief sie darüber ein.
«Jetzt mal eine rein hypothetische Frage», sagte Joyce im Fahren. «Wäre es eventuell ausreichend, wenn Ethan sich in aller Form bei dir entschuldigen würde?»
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