Was richtigen Sex betrifft, bestand Pattys erste Erfahrung darin, als Siebzehnjährige auf einer Party vergewaltigt zu werden, und zwar von einem älteren Internatsschüler namens Ethan Post. Außer Golfspielen trieb Ethan keinen Sport, aber er hatte Patty fünfzehn Zentimeter Körpergröße und zwanzig Kilo Gewicht voraus und erteilte ihr entmutigenden Anschauungsunterricht über die weibliche Muskelkraft im Vergleich zur männlichen. Wie eine Grauzonen-Vergewaltigung kam ihr das, was er mit ihr machte, jedenfalls nicht vor. Als sie anfing, sich zu wehren, wehrte sie sich heftig, wenn auch nicht allzu gut, und nur kurz, denn sie war so ungefähr zum ersten Mal betrunken. Herrlich frei hatte sie sich gefühlt! In Kim McCluskys riesigem Swimmingpool hatte sie Ethan Post, in jener schönen warmen Mainacht, sehr wahrscheinlich einen falschen Eindruck vermittelt. Sie war viel zu umgänglich gewesen, selbst als sie noch gar nicht betrunken war. Im Pool musste sie vor lauter Umgänglichkeit ganz übermütig geworden sein. Alles in allem hatte sie sich vieles selbst zuzuschreiben. Ihre Vorstellungen von Romantik waren wie Gilligans Insel — «denkbar primitiv». Sie lagen irgendwo zwischen Schneewittchen und Nancy Drew. Und Ethan hatte zweifellos jenes arrogante Aussehen, von dem sie sich zum damaligen Zeitpunkt angezogen fühlte. Er ähnelte dem Objekt der Begierde aus einem Mädchenroman mit Segelbooten auf dem Buchumschlag. Nachdem er Patty vergewaltigt hatte, sagte er, es tue ihm leid, dass «es» gröber gewesen sei, als er «es» beabsichtigt habe, das habe er nicht gewollt.
Erst als die Wirkung der Pina Coladas nachließ, früh am nächsten Morgen in dem Zimmer, das Patty, da sie ja ein so umgänglicher Mensch war, mit ihrer kleinen Schwester teilte, damit die mittlere Schwester ein eigenes Zimmer hatte, in dem sie kreativ und chaotisch sein konnte: erst da setzte ihre Entrüstung ein. Das Entrüstende für sie war, dass Ethan sie offenbar für ein solches Nichts erachtet hatte, dass er meinte, sie einfach so vergewaltigen und dann nach Hause bringen zu können. Aber sie war kein solches Nichts. Unter anderem hielt sie schon jetzt, als Elftklässlerin, an der Horace Greeley High School den höchsten Korbvorlagen-Saisonrekord aller Zeiten. Einen Rekord, den sie bereits im kommenden Jahr wieder zunichtemachen würde! Außerdem war sie in das Team der besten Spielerinnen ihres Bundesstaates gewählt worden, eines Staates, der Brooklyn und die Bronx einschloss. Und trotzdem hatte ein Golf spielender Typ, den sie kaum kannte, es in Ordnung gefunden, sie zu vergewaltigen.
Um ihre kleine Schwester nicht zu wecken, ging sie unter die Dusche und weinte dort. Dies war, ohne Übertreibung, die elendste Stunde ihres Lebens. Noch heute, wenn sie an die Menschen überall auf der Welt denkt, die unterdrückt werden und Opfer von Ungerechtigkeit sind, und sich fragt, wie die sich fühlen mögen, erinnert sie sich an diese Stunde. Dinge, die ihr vorher nie in den Sinn gekommen waren, zum Beispiel die Ungerechtigkeit, sich als älteste Tochter ein Zimmer teilen zu müssen, anstatt in Eulalies früheres Zimmer im Keller ziehen zu dürfen, weil es inzwischen bis an die Decke mit längst nicht mehr aktuellen Wahlkampfutensilien vollgestopft war, oder die Ungerechtigkeit, dass ihre Mutter, die so begeistert überallhin rannte, wo ihre mittlere Tochter als Mimin glänzte, nie zu einem von Pattys Spielen ging, fielen ihr jetzt ein. Vor lauter Empörung war sie drauf und dran, jemandem ihr Herz auszuschütten. Aber sie scheute sich, ihre Trainerin oder ihre Mannschaftskameradinnen wissen zu lassen, dass sie getrunken hatte.
Wenn die Geschichte trotz all ihrer Bemühungen, sie im Verborgenen zu halten, schließlich doch herauskam, dann deshalb, weil Trainerin Nagel tags darauf Verdacht schöpfte und Patty nach dem Spiel heimlich in der Umkleide beobachtete. Sie mit in ihr Büro nahm und ohne Umschweife auf ihre blauen Flecken und ihr gedrücktes Verhalten ansprach. Patty demütigte sich selbst, indem sie auf der Stelle und unter Schluchzen alles beichtete. Zu ihrem absoluten Entsetzen schlug Trainerin Nagel daraufhin vor, sie ins Krankenhaus zu bringen und die Polizei zu verständigen.
Patty hatte als Schlagfrau gerade drei von vier Bällen getroffen, hatte zwei Runs und mehrere hervorragende Verteidigungsaktionen hingelegt. Ganz offensichtlich war sie nicht schlimm verletzt. Außerdem waren ihre Eltern politische Freunde von Ethans Eltern, da brauchte man gar nicht erst anzusetzen. Sie wagte zu hoffen, dass die Sache mit einer kleinlauten Entschuldigung für ihren Verstoß gegen die Trainingsregeln, zusammen mit Trainerin Nagels Mitleid und Nachsicht, schnell erledigt wäre. Aber, oh, wie sie sich da täuschte.
Trainerin Nagel rief bei Patty zu Hause an und bekam Pattys Mutter an den Apparat, die, wie immer, außer Atem und auf dem Weg zu einer Sitzung war und weder die Zeit zu reden noch den nötigen Anstand hatte zuzugeben, dass sie keine Zeit zu reden hatte, und dann sprach Trainerin Nagel die folgenden unauslöschlichen Worte in das beigefarbene Telefon des Fachbereichs Sport: «Ihre Tochter hat mir gerade erzählt, dass sie gestern Abend von einem Jungen namens Ethan Post vergewaltigt wurde.» Dann hörte Trainerin Nagel eine Zeitlang zu, bevor sie sagte: «Nein, sie hat es mir eben erst erzählt… Genau… Gestern Abend… Ja, sie ist hier.» Und sie reichte Patty das Telefon.
«Patty?», sagte ihre Mutter. «Geht es dir — gut?»
«Alles in Ordnung.»
«Mrs. Nagel sagt, es habe da gestern Abend einen Vorfall gegeben?»
«Der Vorfall bestand darin, dass ich vergewaltigt wurde.»
«Oje, oje, oje. Gestern Abend?»
«Ja.»
«Ich war doch heute Morgen zu Hause. Warum hast du denn nichts gesagt?»
«Weiß ich nicht.»
«Aber warum? Warum hast du mir nichts gesagt?»
«Vielleicht kam es mir in dem Moment einfach nicht so schlimm vor.»
«Aber dann hast du es doch Mrs. Nagel erzählt.»
«Nein», sagte Patty. «Sie kriegt nur mehr mit als du.»
«Ich habe dich heute Morgen ja kaum gesehen.»
«Das sollte kein Vorwurf sein. Ich sag's bloß.»
«Und du denkst, es könnte… Du bist vielleicht…»
«Vergewaltigt worden.»
«Ich fasse es nicht», sagte ihre Mutter. «Dann komme ich jetzt in die Schule und hole dich ab.»
«Mrs. Nagel findet, dass ich ins Krankenhaus muss.»
«Dann geht's dir also doch nicht gut?»
«Wie gesagt. Alles in Ordnung.»
«Dann bleib, wo du bist, und ihr tut beide nichts, bevor ich da bin.»
Patty legte auf und teilte Trainerin Nagel mit, dass ihre Mutter gleich kommen werde.
«Wir bringen diesen Jungen für lange, lange Zeit hinter Gitter», sagte Trainerin Nagel.
«0 nein nein nein nein nein», sagte Patty. «Tun wir nicht.»
«Patty.»
«Das wird nicht passieren.»
«Wenn du es willst, schon.»
«Nein, auch dann nicht. Meine Eltern und die Posts sind politische Freunde.»
«Jetzt hör mir mal gut zu», sagte Trainerin Nagel. «Das spielt hier überhaupt keine Rolle. Verstehst du?»
Patty war ziemlich sicher, dass Trainerin Nagel sich da täuschte. Dr. Post war Kardiologe, und seine Frau kam aus einer steinreichen Familie. Sie besaßen eines jener Häuser, denen Leute wie Teddy Kennedy und Ed Muskie und Walter Mondale Besuche abstatteten, wenn ihnen das Geld ausging. Über die Jahre hatte Patty ihre Eltern viel von dem «Garten» der Posts reden hören. Dieser «Garten» war anscheinend ungefähr so groß wie der Central Park, nur schöner. Es war vielleicht vorstellbar, dass eine von Pattys glatte Einsen schreibenden, Klassen überspringenden, sich künstlerisch betätigenden Schwestern Unglück über die Posts brachte, aber der Gedanke, die ungeschlachte, Zweien schreibende Sportskanone der Familie könnte eine Delle in der Post'schen Rüstung hinterlassen, war vollkommen abwegig.
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