«Er hat sich schon entschuldigt.»
«Dafür, dass — »
«Dafür, dass er grob war.»
«Und was hast du daraufhin gesagt?»
«Gar nichts. Nur, dass ich nach Hause wollte.»
«Aber er hat sich dafür entschuldigt, dass er grob war.»
«Es war keine richtige Entschuldigung.»
«Gut. Ich verlasse mich darauf.»
«Er soll einfach nur wissen, dass ich existiere.»
«Was immer du willst — Liebling.» Joyce sprach dieses «Liebling» wie das erste Wort einer Fremdsprache aus, die sie gerade zu lernen begonnen hatte.
Zum Test oder zur Strafe sagte Patty: «Also, wenn er sich richtig ernsthaft entschuldigen würde, wäre das eventuell ausreichend.» Und sie spähte zu ihrer Mutter hinüber, die sich Mühe gab (wie es Patty schien), ihre Freude im Zaum zu halten.
«Das klingt für mich nach einer nahezu idealen Lösung», sagte Joyce. «Aber nur, wenn du wirklich glaubst, dass es für dich ausreichend wäre.»
«Wäre es nicht», sagte Patty.
«Wie bitte?»
«Ich habe gesagt, das wäre es nicht.»
«Ich dachte, du hättest gerade das Gegenteil gesagt.» Patty fing wieder ganz verzweifelt an zu weinen. «Entschuldige», sagte Joyce. «Habe ich dich falsch verstanden?»
«ER HAT MICH VERGEWALTIGT, ALS OB ES NICHTS WÄRE. ICH BIN WAHRSCHEINLICH NICHT MAL DIE ERSTE.»
«Das weißt du nicht, Patty.»
«Ich möchte ins Krankenhaus.»
«Pass auf, wir sind ja gleich bei Daddys Kanzlei. Wenn du nicht ernstlich verletzt bist, können wir doch auch — »
«Aber ich weiß schon, was er sagen wird. Ich weiß, was er mir vorschlagen wird.»
«Er wird vorschlagen, dass wir tun, was für dich das Beste ist. Es fallt ihm manchmal schwer, das auszudrücken, aber er liebt dich über alles.»
Joyce hätte kaum etwas sagen können, von dem Patty sich sehnlicher wünschte, dass es stimmte. Von ganzem Herzen wünschte, dass es stimmte. Neckte und verspottete ihr Vater sie nicht auf eine Weise, die schlicht und einfach grausam gewesen wäre, wenn er sie nicht insgeheim über alles lieben würde? Aber sie war jetzt siebzehn und nicht wirklich dumm. Sie wusste, dass man jemanden über alles lieben und zugleich auch gar nicht so sehr lieben konnte, wenn man mit anderen Dingen beschäftigt war.
Im Allerheiligsten ihres Vaters, das er von seinem inzwischen verstorbenen Seniorpartner übernommen hatte, ohne den Teppichboden oder die Vorhänge zu erneuern, roch es nach Mottenkugeln. Woher dieser Geruch genau kam, war auch so ein Mysterium.
«Was für ein mieser kleiner Dreckskerl!», war Rays Antwort auf die Nachricht, die ihm Frau und Tochter von Ethan Posts Vergehen überbrachten.
«So klein leider nicht», sagte Joyce und lachte trocken.
«Ein mieses kleines Dreckschwein ist das», sagte Ray. «Ein missratenes Balg!»
«Also, fahren wir jetzt ins Krankenhaus?», sagte Patty. «Oder zur Polizei?»
Ihr Vater bat ihre Mutter, den alten Kinderarzt Dr. Sipperstein anzurufen, der seit Roosevelt aktiv die Politik der Demokraten unterstützte, und in Erfahrung zu bringen, ob er für einen Notfall zur Verfügung stehe. Während Joyce diesen Anruf machte, fragte er Patty, ob sie wisse, was eine Vergewaltigung sei.
Sie starrte ihn an.
«Ich will nur sichergehen», sagte er. «Du kennst also die Legaldefinition.»
«Er hat gegen meinen Willen Sex mit mir gehabt.»
«Hast du nein gesagt?»
«, , . Jedenfalls war es offensichtlich. Ich habe versucht, ihn zu kratzen und von mir wegzustoßen.»
«Dann ist er ein widerliches Stück Scheiße.»
Sie hatte ihren Vater noch nie so reden hören, und es gefiel ihr, wenn auch nur theoretisch, denn eigentlich passte es nicht zu ihm.
«Dave Sipperstein sagt, wir können um fünf zu ihm in die Praxis kommen», berichtete Joyce. «Er hat Patty so gern, ich glaube, er hätte auch eine Verabredung zum Essen abgesagt, wenn es nötig gewesen wäre.»
«Klar», sagte Patty, «ich bin bestimmt die Nummer eins unter seinen zwölftausend Patienten.»
Dann erzählte sie ihrem Vater alles, und ihr Vater erklärte ihr, warum Trainerin Nagel falsch liege und sie nicht zur Polizei gehen dürfe.
«ehester Post macht es einem als Mensch nicht ganz leicht», sagte Ray, «aber er tut viel Gutes im Bezirk. Angesichts seiner, hm, seiner Stellung würde eine solche Anklage enormes öffentliches Aufsehen erregen. Alle würden wissen wollen, wer der Kläger ist. Alle. Nun — was für die Posts schlecht ist, kann dir natürlich egal sein. Aber es ist so gut wie sicher, dass du dich am Ende durch die Befragungen, den Prozess und die Öffentlichkeit schlimmer misshandelt fühlen würdest, als es momentan der Fall ist. Selbst wenn es auf ein Schuldanerkenntnis hinausläuft. Ja selbst bei einer Bewährungsstrafe und einem Maulkorberlass für die Medien. Schließlich ist die Sache dann aktenkundig.»
Joyce sagte: «Aber das ist alles ihre Entscheidung, nicht — »
«Joyce.» Ray hob eine Hand, um sie am Weiterreden zu hindern. «Die Posts können sich jeden Anwalt im Land leisten. Und sobald die Anklage öffentlich gemacht wird, ist das Schlimmste für den Angeklagten vorbei. Er hat kein Interesse daran, den Vorgang zu beschleunigen. In Wahrheit ist es sogar gut für ihn, wenn dein Ruf vor einem Schuldanerkenntnis oder einem Prozess so stark wie möglich leidet.»
Patty senkte den Kopf und fragte ihren Vater, was sie seiner Meinung nach tun solle.
«Ich rufe jetzt Chester an», sagte er. «Und du fährst zu Dr. Sipperstein, damit er nachsieht, ob alles in Ordnung ist.»
«Und um ihn als Zeugen zu gewinnen», sagte Patty.
«Ja, nötigenfalls könnte er auch aussagen. Aber es wird keinen Prozess geben, Patty.»
«Dann kommt er einfach so davon? Und macht nächstes Wochenende das Gleiche mit einer anderen?»
Ray hob beide Hände. «Lass mich, hm. Lass mich mit Dr. Post reden. Vielleicht kann ich ihn zu einer Vereinbarung über die Aussetzung der Strafverfolgung bewegen. So eine Art stillschweigende Bewährung. Ein Schwert über Ethans Kopf.»
«Aber das ist nichts.»
«0 doch, Pattyschatz, es ist sogar ziemlich viel. Es wäre für dich die Garantie, dass er es keiner anderen antut. Und erfordert übrigens auch ein Schuldeingeständnis.»
Zugegeben, die Vorstellung, dass Ethan einen orangefarbenen Sträflingsanzug trug und in einer Gefängniszelle saß, weil er ihr ein Leid zugefügt hatte, das letztlich vor allem in ihrem Kopf existierte, war absurd. Sie hatte schon Sprints hingelegt, die genauso schmerzhaft waren, wie vergewaltigt zu werden. Fühlte sich nach einem harten Basketballspiel zerschlagener als jetzt. Außerdem gewöhnte man sich als Sportlerin daran, fremde Hände am eigenen Körper zu spüren — beim Kneten eines verkrampften Muskels, in der direkten Verteidigung, beim Gerangel um einen Ball, Verbinden eines Knöchels, Korrigieren einer Haltung, Dehnen einer Kniesehne.
Und doch: Das Gefühl der Ungerechtigkeit an sich erwies sich als ein eigentümlich physisches. War in gewisser Weise sogar realer als ihr schmerzender, stinkender, schwitzender Körper. Ungerechtigkeit hatte eine Form und ein Gewicht und eine Temperatur und eine Struktur und einen sehr schlechten Geschmack.
In Dr. Sippersteins Praxis ließ sie die Untersuchung sportlich über sich ergehen. Als sie sich wieder angezogen hatte, fragte er sie, ob sie vorher schon einmal Geschlechtsverkehr gehabt habe.
«Nein.»
«Das dachte ich mir. Und wie sieht es mit Verhütung aus? Hat die andere Person etwas benutzt?»
Sie nickte. «Das war der Moment, wo ich wegwollte. Als ich gesehen habe, was er da hatte.»
«Ein Kondom.»
«Ja.»
All dies und mehr notierte Dr. Sipperstein in ihrer Krankenakte. Dann nahm er seine Brille ab und sagte: «Du wirst ein schönes Leben haben, Patty. Sex ist etwas Wunderbares, und du wirst ihn dein Leben lang genießen. Aber das war kein so guter Tag für dich, was?»
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