Die erste Nicht-Sportlerin, die Patty aus diesem Kult herauslockte und wichtig für sie wurde, war Eliza, jenes gestörte Mädchen, von dessen Gestörtheit Patty freilich zunächst keine Ahnung hatte. Eliza war genau halb hübsch. Ganz oben war ihr Gesicht hinreißend, und je weiter der Blick abwärtswanderte, desto unansehnlicher wurde es. Sie hatte phantastisch dickes, lockiges braunes Haar, verblüffend große Augen und eine durchaus noch ganz niedliche kleine Stupsnase, aber die Mundpartie war auf eine unangenehme, an Frühgeborene erinnernde Weise zusammengeknautscht und winzig, und sie hatte sehr wenig Kinn. Immer trug sie ausgebeulte Cordhosen, die ihr auf die Hüften herunterrutschten, dazu in der Herrenabteilung von Billigläden gekaufte enge, kurzärmelige Hemden, die sie nur in der Mitte mit zwei, drei Knöpfen schloss, außerdem rote Keds und einen weiten, avocadogrünen Lammfellmantel. Sie roch wie ein Aschenbecher, bemühte sich aber, in Pattys Beisein nur zu rauchen, wenn sie im Freien waren. Eine für Patty damals unsichtbare, für die Autobiographin jedoch ganz unübersehbare Ironie lag darin, dass Eliza eine Menge mit Pattys kunstbeflissenen jüngeren Schwestern gemein hatte. Sie besaß eine schwarze E-Gitarre und einen teuren kleinen Verstärker, aber die paar Male, die sie auf Pattys Drängen hin in ihrer Gegenwart spielte, wurde Eliza wütend auf sie, was sonst so gut wie nie vorkam (jedenfalls nicht am Anfang). Sie sagte, Patty setze sie unter Druck und mache sie verlegen, deshalb greife sie immer schon nach wenigen Akkorden ihres Songs daneben. Sie forderte Patty auf, nicht so offensichtlich zuzuhören, aber auch wenn Patty sich wegdrehte und so tat, als läse sie in einer Zeitschrift, genügte das nicht. Eliza schwor, sie könne ihren Song perfekt spielen, sobald Patty nicht mehr im Zimmer sei. «Aber jetzt? Vergiss es.»
«Tut mir leid», sagte Patty. «Tut mir leid, dass ich so eine Wirkung auf dich habe.»
«Ich kann den Song ganz toll spielen, wenn du nicht zuhörst.»
«Ich weiß, das weiß ich doch. Bestimmt.»
«Das ist eine Tatsache. Es ist egal, ob du's mir glaubst.»
«Aber ich glaube es dir ja!»
«Ich sage doch gerade», erwiderte Eliza, «dass es egal ist, ob du es mir glaubst, weil meine Fähigkeit, diesen Song ganz toll zu spielen, sobald du nicht zuhörst, eine objektive Tatsache ist.»
«Willst du es nicht vielleicht mal mit einem anderen Song versuchen?», schlug Patty vor.
Aber Eliza riss bereits die Stöpsel aus der Gitarre. «Hör auf. Okay? Ich brauche deinen Zuspruch nicht.»
«Tut mir leid», sagte Patty, «tut mir leid.»
Zum ersten Mal hatte sie Eliza in der einzigen Lehrveranstaltung gesehen, in der eine Sportlerin und eine Lyrikerin sich wohl überhaupt begegnen konnten: Einführung in die Erdwissenschaft. Patty erschien in diesem besonders vollen Kurs stets zusammen mit zehn anderen Erstsemester-Sportlerinnen, einer Herde Mädchen, zumeist noch größer als sie, die alle kastanienbraune Trainingsanzüge der Minnesota Golden Gophers oder schlichte graue Jogginghosen trugen und mehr oder weniger feuchte Haare hatten. Es gab in der Herde auch ein paar intelligente Mädchen, zum Beispiel Cathy Schmidt, mit der die Autobiographin eine lebenslange Freundschaft verbindet und die später Strafverteidigerin wurde — an zwei Abenden trat sie mal in der landesweit ausgestrahlten Quizshow Jeopardy! auf — , aber der überheizte Vorlesungssaal und die besagten Trainingsanzüge und die feuchten Haare und die Nähe anderer müder Sportlerinnenkörper erzeugten bei Patty unweigerlich eine Kontakttaubheit. Ein Kontakttief.
Eliza saß gern in der Reihe hinter den Sportlerinnen, direkt hinter Patty, aber so weit vorgebeugt, dass man nur ihre verschwenderischen dunklen Locken sehen konnte. Die ersten Worte, die sie an Patty richtete, drangen zu Beginn einer Unterrichtsstunde von hinten an ihr Ohr. «Du bist die Beste», sagte sie.
Patty drehte sich um, weil sie wissen wollte, wer da sprach, und sah sehr viel Haar. «Wie bitte?»
«Ich hab dich gestern Abend spielen sehen», sagte das Haar. «Du bist brillant und schön.»
«Oh — vielen Dank.»
«Die müssen dir langsam mal mehr Spielzeit geben.»
«Komischerweise bin ich genau derselben Meinung, haha.»
«Du musst eben fordern, dass sie dir mehr Spielzeit geben. Okay?»
«Klar, aber wir haben ziemlich viele gute Spielerinnen in der Mannschaft. Es ist nicht an mir, das zu entscheiden.»
«Mag sein, aber du bist die Beste», sagte das Haar.
«Oh — also vielen Dank für das Kompliment!», antwortete Patty freundlich, um die Sache abzuschließen. Damals glaubte sie, es liege an ihrem selbstlosen Mannschaftsgeist, dass an sie persönlich gerichtete Komplimente sie so verlegen machten. Heute glaubt die Autobiographin, Komplimente waren wie ein Getränk, von dem sie sich instinktiv keinen einzigen Tropfen gönnte, weil es sie grenzenlos danach gedürstet hat.
Als die Vorlesung zu Ende war, umgab sie sich mit ihren Sportkameradinnen und blickte sich bewusst nicht nach dem Mädchen mit dem Haar um. Vermutlich, so sagte sie sich, war es nicht mehr als eine merkwürdige Koinzidenz, dass ein richtiger Fan von ihr in Erdwissenschaften unmittelbar hinter ihr gesessen hatte. An der Universität gab es fünfzigtausend Studenten, von denen wahrscheinlich weniger als fünfhundert (ehemalige Spielerinnen und Freunde oder Familienangehörige von gegenwärtigen Spielerinnen ausgenommen) Frauensportveranstaltungen als mögliches Freizeitvergnügen in Betracht zogen. War man Eliza und wollte direkt hinter der Bank der Gophers sitzen (sodass Patty, wann immer sie vom Platz musste, nicht umhinkonnte, einen mit seinem Haar zu sehen, da man sich ja über sein Notizbuch beugte), brauchte man nur fünfzehn Minuten vor Spielbeginn zu erscheinen. Nach dem Schlusspfiff und dem Abklatschritual war es dann das Einfachste von der Welt, Patty kurz vor der Umkleide abzufangen, ihr einen Zettel aus dem Notizbuch zu reichen und zu sagen: «Hast du mehr Spielzeit verlangt, so wie ich es dir gesagt habe?»
Patty wusste immer noch nicht, wie dieses Mädchen hieß, das ihren Namen hingegen ganz genau zu kennen schien, denn auf dem Zettel stand ungefähr einhundertmal PATTY, in krakeligen Cartoon-Buchstaben mit konzentrischen Bleistiftumrissen, die sie wie durch die Sporthalle schallende Rufe aussehen ließen, so als ob eine wilde Horde ihren Namen skandierte, was denkbar weit von der Wirklichkeit entfernt war, denn die Sporthalle blieb für gewöhnlich zu neunzig Prozent leer, und Patty war neu auf dem College und durchschnittlich weniger als zehn Minuten pro Spiel auf dem Platz, also nicht gerade jemand, von dem alle sprachen. Die krakeligen Bleistiftrufe füllten, abgesehen von einer kleinen Skizze einer dribbelnden Spielerin, das ganze Blatt Papier. Patty war sofort klar, dass diese Spielerin sie selbst sein sollte, weil sie ihre Nummer trug und außerdem auf einem Zettel, der über und über mit dem Wort PATTY bedeckt war, wohl kaum jemand anders gezeichnet worden sein konnte als sie. Wie alles, was Eliza tat (das sollte Patty bald genug begreifen), war die Skizze zur Hälfte äußerst gekonnt und zur Hälfte unbeholfen und schlecht. Wie der Körper der Spielerin dicht am Boden und extrem zur Seite geneigt war, weil sie gerade eine jähe Kehrtwende machte, das war fabelhaft gelungen, aber Gesicht und Kopf ähnelten einer schematischen Frauenabbildung in einer Erste-Hilfe-Broschüre.
Während sie auf das Blatt Papier sah, hatte Patty einen Vorgeschmack von jenem Gefühl zu fallen, das sie ein paar Monate später haben sollte, nachdem sie mit Eliza Haschbrownies gegessen hatte. Jenem Gefühl von etwas Falschem und Unheimlichem, gegen das sie sich jedoch kaum wehren konnte.
«Danke für die Zeichnung», sagte sie.
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