Was Eliza mit ihrer übrigen Freizeit anfing, lag ein wenig im Dunkeln. Anscheinend gab es diverse «Männer» (d.h. Jungs) in ihrem Leben, und manchmal erwähnte sie Konzerte, auf die sie gegangen war, aber wenn Patty an diesen Konzerten Interesse bekundete, sagte Eliza, sie solle sich erst mal all die Mixtapes anhören, die sie extra für sie aufgenommen habe; und mit diesen Mixtapes hatte Patty so ihre Schwierigkeiten. Patti Smith, die zu verstehen schien, wie ihr am Morgen nach der Vergewaltigung im Bad zumute gewesen war, gefiel ihr gut, aber bei Velvet Underground zum Beispiel bekam sie Einsamkeitsgefühle. Irgendwann gestand sie Eliza, ihre Lieblingsband seien die Eagles, und Eliza sagte: «Das ist doch völlig in Ordnung, die Eagles sind gut», aber Eagles-Platten fanden sich ganz sicher nicht in Elizas Zimmer.
Elizas Eltern waren als Psychotherapeuten in den Twin Cities schwer im Geschäft und lebten etwas außerhalb in Wayzata, wo jeder Geld hatte, und sie hatte einen älteren Bruder, der seit drei Jahren am Bard College studierte und, wie sie sagte, «komisch» war. Auf Pattys Frage «Komisch in welcher Hinsicht?» antwortete Eliza: «In jeder.» Eliza selbst hatte sich ihre Highschool-Bildung an drei verschiedenen örtlichen Schulen zusammengeschustert und war an der Universität eingeschrieben, weil ihre Eltern sich weigerten, sie zu unterstützen, sofern sie nicht aufs College ging. Sie war eine andere Sorte Zweierkandidatin als Patty, die in allen Fächern Zweien hatte. Eliza bekam in Englisch immer eine Eins plus und ansonsten nur Vieren. Soweit bekannt, waren ihre einzigen Interessen, neben Basketball, die Lyrik und der Müßiggang.
Eliza wollte unbedingt, dass Patty Gras probierte, aber Patty war extrem besorgt um ihre Lunge, und so kam es zu der Sache mit den Brownies. Die beiden waren in Elizas VW-Käfer zu dem Haus in Wayzata hinausgefahren, in dem sich viele afrikanische Skulpturen, aber keine Eltern befanden, denn die waren auf einem Wochenendkongress. Eigentlich hatten sie ein extravagantes Julia-Child-Menü zubereiten wollen, aber daraus wurde nichts, weil sie zu viel Wein tranken, und so aßen sie am Ende Cracker und Käse und buken die Brownies und konsumierten aller Wahrscheinlichkeit nach gewaltige Mengen Drogen. Ein Teil von Patty dachte während der gesamten sechzehn Stunden Durch-den-Wind-Seins: «Das mache ich nie wieder.» Ihr war, als hätte sie die Trainingsregeln so gründlich gebrochen, dass sie nie mehr imstande sein würde, sie zu kitten, und das bereitete ihr erhebliche Bauchschmerzen. Außerdem wurde ihr auf einmal Elizas wegen angst und bange — sie hatte das seltsame Gefühl, in sie verknallt zu sein, weshalb es von höchster Wichtigkeit schien, regungslos dazusitzen, sich zusammenzureißen und bloß nicht dahinterzusteigen, dass sie womöglich bisexuell war. Eliza fragte sie immer wieder, wie es ihr gehe, und sie antwortete immer wieder: «Sehr gut, danke», was sie beide jedes Mal zum Totlachen fanden. Als sie jetzt Velvet Underground hörten, verstand Patty die Band viel besser; es war eine ziemlich schmutzige Band, und ihre Schmutzigkeit ähnelte auf beruhigende Weise dem, was sie selbst da draußen in Wayzata, umgeben von afrikanischen Masken, fühlte. Umso erleichterter stellte sie, als ihr Rausch langsam nachließ, fest, dass es ihr sogar im Rausch gelungen war, sich zusammenzureißen, und dass auch Eliza sie nicht berührt hatte: dass also nichts Lesbisches je zwischen ihnen vorfallen würde.
Patty war neugierig auf Elizas Eltern und wollte bleiben, bis sie zurückkamen, aber Eliza sagte, das sei überhaupt keine gute Idee, und ließ sich auch nicht umstimmen. «Sie sind füreinander die ganz große Liebe», sagte sie. «Sie machen alles zusammen. Sie haben identische Praxen auf derselben Büroetage, sie schreiben alle ihre Aufsätze und Bücher gemeinsam, sie halten gemeinsame Vorträge auf Kongressen, und wegen der ärztlichen Schweigepflicht können sie zu Hause niemals über ihre Arbeit sprechen. Sogar ein Tandem haben sie.»
«Und?»
«Und das heißt, sie sind merkwürdig, und du würdest sie nicht mögen, und dann würdest du auch mich nicht mehr mögen.»
«Meine Eltern sind auch nicht so toll», sagte Patty.
«Das hier ist etwas anderes, glaub mir. Ich weiß, wovon ich rede.»
Als sie im Käfer zurück in die Stadt fuhren, hinter sich die noch keine Wärme spendende Frühlingssonne Minnesotas, hatten sie ihren ersten Quasi-Streit.
«Du musst den Sommer über hierbleiben», sagte Eliza. «Du darfst nicht wegfahren.»
«Das ist nicht gerade realistisch», sagte Patty. «Ich werde in der Kanzlei meines Vaters arbeiten und den Juli über in Gettysburg sein.»
«Warum kannst du nicht bleiben und von hier aus zu deinem Camp fahren? Wir suchen uns Jobs, und du kannst jeden Tag in die Sporthalle gehen.»
«Ich muss nach Hause.»
«Warum denn? Du findest es doch schrecklich da.»
«Wenn ich hierbleibe, trinke ich bloß jeden Abend Wein.»
«Nein, tust du nicht. Wir stellen strenge Regeln auf. Alle Regeln, die du willst.»
«Ich bin ja im Herbst wieder da.»
«Können wir dann zusammenwohnen?»
«Nein, ich habe Cathy versprochen, in ihre Vierer-WG zu ziehen.»
«Du könntest ihr sagen, dass sich deine Pläne geändert haben.»
«Nein, das geht nicht.»
«Das ist doch verrückt! Ich kriege dich fast nie zu sehen!»
«Ich treffe mich öfter mit dir als mit praktisch jedem anderen. Und das sehr gern.»
«Warum willst du dann diesen Sommer nicht hierbleiben? Vertraust du mir nicht?»
«Warum sollte ich dir nicht vertrauen?»
«Weiß nicht. Ich begreife nur nicht, warum du überhaupt für deinen Vater arbeiten willst. Er hat sich nicht um dich gekümmert, und er hat dich nicht beschützt, ganz im Gegensatz zu mir. Ihm liegt dein Wohl nicht ernsthaft am Herzen, mir dagegen schon.»
In der Tat brach Pattys Stimmung bei dem Gedanken, nach Hause zu fahren, spürbar ein, aber sie fand, sie müsse sich dafür bestrafen, dass sie Haschbrownies gegessen hatte. Außerdem hatte ihr Vater sich in letzter Zeit um sie bemüht, indem er ihr handgeschriebene Briefe («Du fehlst uns auf dem Tennisplatz») geschickt und ihr angeboten hatte, das alte Auto ihrer Großmutter zu übernehmen, das diese seiner Ansicht nach nicht mehr fahren sollte. Nach einem Jahr fern von zu Hause bereute sie es, dass sie so kalt zu ihm gewesen war. Vielleicht hatte sie ja einen Fehler gemacht? Und so fuhr sie über den Sommer nach Hause und stellte fest, dass sich nichts geändert und sie also auch keinen Fehler gemacht hatte. Sie sah bis Mitternacht fern, stand jeden Morgen um sieben Uhr auf, lief achteinhalb Kilometer und verbrachte den Rest des Tages damit, Namen in Rechtsdokumenten zu markieren und sich auf die Post zu freuen, in der sich meistens ein langer, getippter Brief von Eliza befand, die ihr schrieb, wie sehr sie sie vermisse, und ihr Geschichten über ihren «lüsternen» Chef in dem Wiederaufführungs-Filmkunsttheater erzählte, an dessen Kasse sie arbeitete, und sie ermahnte, auf der Stelle zurückzuschreiben, was Patty nach besten Kräften tat, und zwar auf altem, mit Briefkopf versehenem Papier und der Selectric-Schreibmaschine in der nach Mottenkugeln riechenden Kanzlei ihres Vaters.
Einmal schrieb Eliza: Ich glaube, wir müssen im Hinblick auf Schutz und Selbstvervollkommnung Regeln füreinander aufstellen. Patty war skeptisch, antwortete aber mit drei Regeln für ihre Freundin. Keine Zigaretten vor dem Abendessen. Sich jeden Tag bewegen und an Sportlichkeit arbeiten. Und Alle Vorlesungen besuchen und Hausaufgaben für ALLE Seminare machen (nicht nur für Englisch). Sicher hätte sie beunruhigt sein sollen, als sie sah, wie völlig anders Elizas Regeln für sie ausfielen — nur an Samstagabenden trinken und nur in Elizas Gegenwart; nicht auf gemischte Partys gehen, außer in Begleitung von Eliza; und Eliza ALLES erzählen — , aber irgendetwas stimmte mit ihrem Urteilsvermögen nicht, und deshalb freute sie sich darüber, dass sie so eine enge beste Freundin hatte. Unter anderem gab es ihr Waffen und Munition gegen ihre mittlere Schwester an die Hand.
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