«Sieh du doch in den Scheißkühlschrank. Ich muss hier mal raus.»
«Na toll. Dann geh doch.»
«Bist du hier, wenn ich zurückkomme? Damit ich reinkann?»
«Ja, Schatz.»
Einen Kloß in der Kehle, mädchenhaft den Tränen nahe, ging Joey hinaus in die Nacht. Dass Jonathan derart die Fassung verlor, enttäuschte ihn maßlos. Mit einem Mal spürte er seine überlegene Reife, und während er durch die späten Käufermassen auf der Fifth Avenue driftete, überlegte er, wie er diese Reife Jenna vermitteln könnte. Er kaufte zwei polnische Würste an einem Stand und drängte sich durch die noch dichteren Massen am Rockefeiler Center, wo er den Eisläufern zusah und den gewaltigen, lichtlosen Weihnachtsbaum und die in erregendes Flutlicht getauchten Höhen des NBC Tower bewunderte. Dann mochte er also Mädchenkram, na und? Deshalb war er noch lange kein Weichei. Es machte ihn nur sehr einsam. Als er den Eisläufern zusah, bekam er Heimweh nach St. Paul und rief Connie an. Sie war auf ihrer Schicht bei Frost's und hatte gerade so viel Zeit, dass er ihr sagen konnte, wie sehr er sie vermisste und wo er gerade stand und dass er wünschte, er könnte es ihr zeigen.
«Ich liebe dich, Baby», sagte sie.
«Ich dich auch.»
Am nächsten Morgen erhielt er bei Jenna seine Chance. Anscheinend war sie Frühaufsteherin und schon draußen gewesen, um Sachen fürs Frühstück zu kaufen, als Joey, der ebenfalls früh aufstand, im T-Shirt der University of Virginia und mit Paisley-Boxershorts in die Küche schlurfte. Als er sie mit einem Buch am Tisch sitzen sah, kam er sich ziemlich splitternackt vor.
«Ich habe dir und meinem unwürdigen Bruder Bagels mitgebracht», sagte sie.
«Danke», sagte er und fragte sich, ob er wieder kehrtmachen und sich eine Hose anziehen oder einfach zeigen sollte, was er zu bieten hatte. Da sie kein weiteres Interesse an ihm bekundete, entschied er sich für das Risiko, sich nicht anzuziehen. Während er dann aber darauf wartete, dass sein Bagel getoastet war, und verstohlene Blicke auf ihre Haare, ihre Schultern und ihre nackten, überkreuzten Beine warf, bekam er einen Ständer. Er wollte schon ins Wohnzimmer flüchten, als sie aufblickte und sagte: «Was ist das denn für ein Buch? Das ist. ja tödlich langweilig.»
Er ging hinter einem Stuhl in Deckung. «Wovon handelt es denn?»
«Ich dachte eigentlich, es geht um Sklaverei. Jetzt ist mir aber gar nichts mehr klar.» Sie zeigte ihm zwei gegenüberliegende Seiten dichter Prosa. «Das soll es bringen? Ich lese es jetzt zum zweiten Mal. Es handelt so ungefähr von der Hälfte der Syllabusse an der Duke. Der Syllabi. Und ich werde noch immer nicht schlau daraus, was es überhaupt soll. Also, was überhaupt mit den Figuren und so passiert.»
«Letztes Jahr hab ich für die Schule Solomons Lied gelesen», sagte Joey. «Ich fand das ganz schön irre. So ziemlich der beste Roman, den ich je gelesen habe.»
Sie verzog das Gesicht zu einer komplexen Grimasse der Gleichgültigkeit ihm gegenüber und der Verärgerung über ihr Buch. Er setzte sich zu ihr an den Tisch, biss von dem Bagel ab und kaute eine Weile, kaute weiter und machte sich erst dann klar, dass die Sache mit dem Schlucken problematisch werden würde. Allerdings war keine Eile geboten, da Jenna noch immer zu lesen versuchte.
«Was, glaubst du, ist mit deinem Bruder los?», sagte er, nachdem er ein paar Bissen hinuntergewürgt hatte.
«Wie meinst du das?»
«Er verhält sich wie ein Idiot. Irgendwie unreif. Findest du nicht?»
«Da darfst du nicht mich fragen. Er ist dein Freund.»
Sie starrte weiter auf ihr Buch. Ihre herablassende Unzugänglichkeit war identisch mit der der Spitzenmädels an der Virginia. Der einzige Unterschied war der, dass er Jenna noch attraktiver fand und ihr jetzt nahe genug war, um ihr Shampoo zu riechen. Unter dem Tisch, in seinen Boxershorts, zeigte sein Halbsteifer auf sie wie die Kühlerfigur eines Jaguars.
«Und was machst du heute?», sagte er.
Sie klappte das Buch zu, als fände sie sich damit ab, dass er immer noch da war. «Shoppen», sagte sie. «Und heute Abend ist in Brooklyn eine Party. Und du?»
«Vermutlich nichts, da dein Bruder die Wohnung nicht verlassen will. Ich habe hier eine Tante, mit der ich mich um vier treffe, sonst war's das.»
«Ich finde, Jungs haben es schwerer», sagte Jenna. «Zu Hause, meine ich. Mein Dad ist unglaublich, und ich komme damit zurecht, habe kein Problem damit, dass er berühmt ist. Aber ich glaube, Jonathan hat immer das Gefühl, dass er etwas beweisen muss.»
«Indem er zehn Stunden am Stück fernsieht?»
Sie runzelte die Stirn und sah Joey, womöglich zum ersten Mal, richtig an. «Magst du meinen Bruder überhaupt?»
«Aber ja doch. Erst seit Donnerstagabend ist er seltsam. Na, so wie er gestern gefahren ist? Ich dachte, vielleicht hast du da Einblicke.»
«Ich glaube, das Größte für ihn ist, um seiner selbst willen gemocht zu werden. Und nicht wegen unserem Dad.»
«Verstehe», sagte Joey. Und sah sich inspiriert hinzuzufügen: «Oder nicht wegen seiner Schwester.»
Sie errötete! Ein klein wenig. Und schüttelte den Kopf. «Ich bin nichts Besonderes.»
«Hahaha», sagte er und errötete ebenfalls.
«Also wie mein Dad bin ich schon mal gar nicht. Ich hab keine großen Ideen und auch keinen großen Ehrgeiz. Im Grunde bin ich, wenn man sich's mal genau ansieht, doch ziemlich egoistisch. Fünfzig Hektar in Connecticut, ein paar Pferde, ein Vollzeitknecht und vielleicht noch ein Privatjet, das wär's für mich schon.»
Joey fiel auf, dass es lediglich einer Anspielung auf ihre Schönheit bedurft hatte, um sie zu öffnen und dazu zu bringen, über sich zu reden. Und nun, da die Tür sich auch nur einen Millimeter aufgetan hatte und er durch die Ritze geschlüpft war, wusste er, was er tun musste. Er musste zuhören und verstehen. Und es war nicht etwa ein gespieltes Zuhören oder Verstehen. Es war Joey im Frauenland. Es dauerte nicht lange, da war ihm in dem schmutzigen Winterlicht der Küche, während er Anweisungen von Jenna entgegennahm, wie man einen Bagel richtig belegte, mit Lachs und Zwiebeln und Kapern, nicht sehr viel unwohler, als wenn er sich mit Connie unterhalten hätte oder seiner Mom oder seiner Großmutter oder Connies Mom. Jennas Schönheit war nicht weniger blendend als zuvor, doch sein Ständer war keiner mehr. Er warf ihr ein paar Brocken über seine familiäre Situation hin, und im Gegenzug räumte sie ein, dass ihre Familie nicht besonders glücklich über ihren Freund war.
«Es ist schon verrückt», sagte sie. «Ich glaube, das ist ein Grund, weswegen Jonathan hierher wollte und jetzt die Wohnung nicht verlässt. Er glaubt, das mit mir und Nick irgendwie torpedieren zu müssen. Als würde er es beenden können, wenn er immer bei uns rumschwirrt und uns in die Quere kommt.»
«Warum mögen sie Nick denn nicht?»
«Na, zum einen ist er katholisch. Und er hat an der Uni Lacrosse gespielt. Er ist superklug, aber nicht auf eine Weise, die sie gut finden.» Jenna lachte. «Ich hab ihm mal von dem Thinktank meines Dads erzählt, und als seine Verbindung das nächste Mal eine Party machte, haben sie ein Schild mit. der Aufschrift Thinktank ans Fass gehängt. Ich fand das richtig komisch. Jetzt weißt du's ungefähr.»
«Betrinkst du dich oft?»
«Nein, ich vertrage so viel wie ein Floh. Und Nick hat mit dem Trinken aufgehört, als er angefangen hat zu arbeiten. Er trinkt einen Jack Cola die Woche oder so. Konzentriert sich total auf seine Karriere. Er war der Erste in seiner Familie, der vier Jahre lang am College war, das totale Gegenteil von meiner, wo du ein Versager bist, wenn du nur einen Doktortitel hast.»
«Und er ist nett zu dir?»
Ein Schatten von irgendetwas flog ihr über das Gesicht, und sie sah weg. «Bei ihm fühle ich mich unglaublich sicher. Zum Beispiel habe ich gedacht, dass er uns, wenn wir am n. September in den Türmen, sogar in einem der Stockwerke ganz oben, gewesen wären, irgendwie rausgebracht hätte. Mit ihm wäre ich rausgekommen, das habe ich im Gefühl.»
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