«Aber das kommt doch daher, dass sie frei sind», sagte Joey. «Ist das nicht der Sinn der Freiheit? Dass man das Recht hat zu denken, was man will? Na ja, zugegeben, manchmal geht einem das schon auf den Zeiger.»
Rings um den Tisch wurde darüber gekichert.
«Das ist vollkommen richtig», sagte Jennas Vater. «Freiheit geht einem auf den Zeiger. Und genau deswegen ist es so unabdingbar, die Gelegenheit zu ergreifen, die sich uns in diesem Herbst geboten hat. Wir müssen eine Nation freier Menschen dazu bringen, von ihrer schlechten Logik abzulassen und sich einer besseren anzuschließen, welche Mittel dazu auch nötig sind.»
Außerstande, noch eine einzige Sekunde auf dem Präsentierteller auszuhalten, nickte Joey noch eifriger. «Sie haben recht», sagte er. «Ich seh's ein, Sie haben recht.»
Jennas Vater erleichterte sich daraufhin von weiteren nicht allzu genau genommenen Fakten und festen Meinungen, von denen Joey kaum noch ein Wort mitbekam. Er bebte am ganzen Körper von der Erregung, vor allen anderen gesprochen zu haben und von Jenna gehört worden zu sein. Das Gefühl, das er den Herbst über verdrängt hatte, das Gefühl, ein Spieler zu sein, kehrte nun zu ihm zurück. Als Jonathan vom Tisch aufstand, erhob er sich unsicher und folgte ihm in die Küche, wo sie genügend unausgetrunkenen Wein zusammentrugen, um zwei Halblitergläser für sich zu füllen.
«Mann», sagte Joey, «so kannst du doch nicht roten und weißen mischen.»
«Das ist jetzt Rose, du Töffel», sagte Jonathan. «Seit wann bist du denn Herr Önophil?»
Sie gingen mit ihren randvollen Gläsern in den Keller und tranken den Wein beim Air Hockey. Joey bebte noch immer so sehr, dass er kaum dessen Wirkung spürte, was sich als Glück erwies, als Jonathans Vater nach unten kam und sich zu ihnen gesellte. «Wie wär's mit ein wenig Cowboy Pool?», sagte er und rieb sich die Hände. «Ich nehme an, Jonathan hat Ihnen unser Hausspiel schon beigebracht?»
«Ja, ich bin darin die totale Niete», sagte Joey.
«Es ist das Königsspiel im Pool, weil es das Beste von Karambol- und Taschenbillard vereint», sagte der Alte, während er die Eins, die Zwei und die Fünf auf ihre Aufsatzmarken legte. Irgendwie schien er Jonathan peinlich zu sein, was Joey interessant fand, da er zu der Ansicht neigte, dass man sich nur für seine, Joeys, Eltern schämen konnte. «Wir haben eine zusätzliche Hausregel, die ich heute Abend gern auf mich selbst anwenden möchte. Jonathan? Was meinst du? Diese Regel soll verhindern, dass ein sehr geschickter Spieler sich immer nur hinter die Fünf stellt und sein Punktekonto steigert. Ihr Jungs dürft das, vorausgesetzt, ihr bekommt einen Zugball hin, wohingegen ich die Fünf über Bande spielen oder davor noch einen anderen Ball versenken muss.»
Jonathan verdrehte die Augen. «Ja, klingt gut, Dad.»
«Wollen wir lochen?», sagte sein Vater, während er die Pomeranze seines Queues mit Kreide einrieb.
Joey und Jonathan sahen einander an und prusteten los. Der alte Mann bemerkte es nicht einmal.
Es setzte Joey zu, dass er bei einem Spiel so schlecht war, und als der alte Mann ihm ein paar Tipps gab, die ihn nur noch schlechter aussehen ließen, wurde die Wirkung des Weines offenbar. Jonathan dagegen zeigte höchsten Einsatz und spielte mit einem tödlichen Ernst im Blick, den Joey noch nie an ihm gesehen hatte. Während eines seiner längeren Breaks nahm sein Vater Joey beiseite und fragte ihn nach seinen Sommerplänen.
«Das ist noch lange hin», sagte Joey.
«So lange hin ist es eigentlich gar nicht. Was sind Ihre Hauptinteressengebiete?»
«Vor allem muss ich Geld verdienen und in Virginia bleiben. Ich finanziere mir mein Studium selbst.»
«Das hat mir Jonathan gesagt. Ein beachtlicher Ehrgeiz. Und verzeihen Sie mir, wenn ich hier zu weit gehe, aber von meiner Frau habe ich gehört, dass Sie ein Interesse für Ihr Erbe entwickeln, da Sie ja nun mal nicht im Glauben erzogen worden sind. Ich weiß nicht, ob das überhaupt ein Faktor bei Ihrer Entscheidung ist, etwas auf die Beine stellen zu wollen, aber wenn dem so sein sollte, möchte ich Sie beglückwünschen, dass Sie sich eigene Gedanken machen und auch den Mut dazu haben. Irgendwann könnten Sie sogar zu Ihrer Familie zurückkehren und sie bei ihrer eigenen Erkundung anleiten.»
«Ich finde es wirklich sehr schade, dass ich nie etwas darüber erfahren habe.»
Der alte Mann schüttelte ebenso missbilligend den Kopf, wie seine Frau es getan hatte. «Wir haben die wunderbarste und langlebigste Tradition der Welt», sagte er. «Ich denke, für einen jungen Menschen sollte sie heute eine besondere Anziehungskraft haben, weil es bei ihr doch einzig und allein um persönliche Entscheidungen geht. Niemand sagt einem Juden, was er zu glauben hat. Sie können sozusagen Ihre Apps und Funktionen selbst wählen.»
«Ach ja, interessant», sagte Joey.
«Und was haben Sie noch für Pläne? Streben Sie eine Karriere als Geschäftsmann an wie offenbar jeder heutzutage?»
«Ja, auf jeden Fall. Ich überlege, ob ich meinen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften mache.»
«Das ist gut. Geld verdienen zu wollen ist nichts Schlechtes. Nun musste ich selbst ja kein Geld verdienen, wobei ich durchaus behaupten kann, dass ich ganz gut darin war, das zu verwalten, was mir vermacht wurde. Ich verdanke viel meinem Urgroßvater in Cincinnati, der mit leeren Händen hierherkam. Er erhielt in diesem Land eine Chance, was ihm die Freiheit gab, aus seinen Fähigkeiten das Beste herauszuholen. Deshalb habe ich mich entschieden, mein Leben so zu verbringen, wie ich es getan habe — dieser Freiheit Ehre zu machen und mit dafür zu sorgen, dass das nächste amerikanische Jahrhundert ähnlich gesegnet ist. Geld zu verdienen ist nichts Schlechtes, überhaupt nicht. Aber es muss noch mehr in Ihrem Leben geben. Sie müssen sich entscheiden, auf welcher Seite Sie stehen, und dafür kämpfen.»
«Unbedingt», sagte Joey.
«Nächsten Sommer könnte es am Institut einige gutbezahlte Sommerjobs geben, falls Sie daran Interesse haben, etwas für Ihr Land zu tun. Seit den Angriffen haben unsere Spendenaktionen sämtliche Erwartungen übertroffen. Das ist überaus erfreulich. Sollte Ihnen der Sinn danach stehen, könnten Sie sich überlegen, ob Sie sich bewerben.»
«Auf jeden Fall!», sagte Joey. Er kam sich vor wie einer von Sokrates' jungen Gesprächspartnern, deren Anteil am Dialog Seite um Seite aus Variationen von «Ja, ohne Frage» und «Das muss zweifellos so sein» bestand. «Klingt super», sagte er. «Ich bewerbe mich bestimmt.»
Jonathan unterriss den Zugball und geriet unerwartet mit der Ferrule an die Weiße, wodurch er sämtliche Punkte, die er in seiner Aufnahme angesammelt hatte, verlor. «Scheiße!», schrie er und fügte sicherheitshalber noch ein «Scheiße!» hinzu. Er knallte das Queue gegen die Tischkante; es folgte ein betretener Moment.
«Du musst besonders vorsichtig sein, wenn du einen hohen Punktestand angehäuft hast», sagte sein Vater.
«Das weiß ich, Dad. Das weiß ich. Ich war auch vorsichtig. Bloß hat mich eure Unterhaltung ein bisschen abgelenkt.»
«Joey, Sie jetzt?»
Was hatte es nur damit auf sich, dass er, wenn er einen Gefühlsausbruch eines Freundes miterlebte, den unbeherrschbaren Drang hatte zu lächeln? Er fühlte sich herrlich befreit, weil er sich nicht auf diese Art mit seinem eigenen Vater auseinandersetzen musste. Mit jedem weiteren Augenblick spürte er, wie noch mehr von seinem Glück zurückkehrte. Um Jonathans willen war er froh, dass ihm sein nächster Stoß misslang.
Aber Jonathan war trotzdem sauer auf ihn. Nachdem sein Vater, zweimal siegreich, wieder hinaufgegangen war, beschimpfte er Joey in nicht gerade lustiger Weise als Schwuchtel und meinte schließlich, er halte es für keine besonders gute Idee, mit Jenna nach New York zu fahren.
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