Jonathans Mutter Tamara, früher eindeutig ein scharfer Feger und noch immer nicht ohne, zeigte Joey das Luxuszimmer samt Bad, das er für sich allein haben würde. «Jonathan hat mir erzählt, du bist Jude», sagte sie.
«Ja, anscheinend bin ich das», sagte Joey.
«Aber nicht religiös?»
«Bis vor einem Monat war es mir nicht mal bewusst.»
Tamara schüttelte den Kopf. «Das verstehe ich nicht», sagte sie. «Ich weiß, es ist sehr verbreitet, aber ich werde es nie verstehen.»
«Es war ja nicht so, dass ich Christ gewesen wäre oder so», sagte Joey entschuldigend. «Das war alles überhaupt kein Thema.»
«Jedenfalls bist du uns sehr willkommen. Ich könnte mir denken, du findest es interessant, ein wenig über dein Erbe zu erfahren. Du wirst sehen, dass Howard und ich nicht besonders konservativ sind. Wir finden es nur wichtig, uns unseres Erbes bewusst zu sein und es nie zu vergessen.»
«Sie werden dich schon ordentlich zurechtschleifen», sagte Jonathan.
«Keine Sorge, du wirst sehr sanft geschliffen werden», sagte Tamara und lächelte milfig.
«Super», sagte Joey. «Ich bin für alles zu haben.»
Sobald es ging, flüchteten die beiden jungen Männer in den Freizeitraum im Souterrain, dessen Ausstattung sogar die in Blakes und Carols Mehrzweckraum in den Schatten stellte. Auf den blauen Filzweiten des Mahagoni-Billardtischs konnte man fast Tennis spielen. Jonathan zeigte Joey ein kompliziertes, nicht enden wollendes und frustrierendes Spiel, das Cowboy Pool hieß und einen Tisch ohne eine zentrale Auffangvorrichtung für die Bälle erforderte. Joey wollte schon vorschlagen, zu Air Hockey zu wechseln, worin er vernichtende Fertigkeiten besaß, als Jenna, die Schwester, nach unten kam. Sie nahm Joey von den Zinnen ihres zweijährigen Altersvorsprungs herab kaum wahr und besprach gleich dringende Familienangelegenheiten mit ihrem Bruder.
Auf einmal begriff Joey wie nie zuvor, was man unter «atemberaubend» verstand. Jenna war von jener verstörenden Schönheit, die alles um sie herum, selbst die elementaren Organfunktionen des Betrachters, auf den Status einer Nebensächlichkeit verwies. Ihre Figur, ihr Teint, ihr Knochenbau ließen die Eigenschaften, die er an anderen «hübschen» Mädchen so bewundert hatte, nun krude Annäherungen an Schönheit sein; nicht einmal die Fotos von ihr waren dem Original gerecht geworden. Ihr Haar war dicht und glänzend und erdbeerblond, und sie trug ein übergroßes Duke-Trikot und eine Flanellschlafanzughose, die, weit davon entfernt, die Vollkommenheit ihres Körpers zu verhüllen, sein Vermögen demonstrierte, sich noch gegen die schlabberigsten Klamotten durchzusetzen. Alles andere im Freizeitraum, worauf Joey seine Blicke richtete, fiel nur dadurch auf, dass es nicht sie war — durch die Bank zweitrangiger Kram. Und dennoch war sein Gehirn, wenn er doch einmal einen verstohlenen Blick auf sie warf, zu aufgewühlt, als dass er viel hätte erkennen können. Das Ganze war seltsam ermüdend. Anscheinend war es ihm nicht möglich, eine Miene aufzusetzen, die weder falsch noch betreten war. Dass er wie ein Idiot den Fußboden angrinste, während sie und ihr verblüffend unerschrockener Bruder sich über die Shopping-Expedition nach New York zankten, die sie am Freitag unternehmen wollte, war ihm schmerzlich bewusst.
«Du kannst uns nicht das Cabrio lassen», sagte Jonathan. «In dem Ding sehen Joey und ich aus wie zwei Schwule.»
Jennas einziger offenkundiger Defekt war ihre Stimme, die gepresst und kleinmädchenhaft klang. «Ja, klar», sagte sie. «Zwei Schwule mit Jeans, die ihnen halb überm Arsch hängen.»
«Ich kapiere einfach nicht, warum du nicht mit dem Cabrio nach New York fahren kannst», sagte Jonathan. «Das hast du doch schon mal gemacht.»
«Weil Mom sagt, das geht nicht. Nicht an einem Feiertagswochenende. Der Land Cruiser ist sicherer. Am Sonntag hast du ihn wieder.»
«Spinnst du? Der Land Cruiser ist eine Überschlagkiste. Total unsicher.»
«Das kannst du ja Mom erzählen. Sag ihr, dein Erstlingsauto ist eine unsichere Überschlagkiste, weshalb ich damit nicht nach New York fahren kann.»
«Hey.» Jonathan wandte sich an Joey. «Willst du übers Wochenende nach New York?»
«Klar!», sagte Joey.
«Nehmt doch einfach das Cabrio», sagte Jenna. «Für drei Tage schadet euch das nicht.»
«Nein, super, wir machen es so», sagte Jonathan. «Wir fahren alle mit dem Land Cruiser nach New York und gehen shoppen. Du kannst mir helfen, eine Hose zu finden, die deinem Standard entspricht.»
«Gründe dafür, dass das ein Blindgänger ist?», sagte Jenna. «Nummer eins, ihr habt nicht mal was zum Übernachten.»
«Warum können wir denn nicht mit dir bei Nick pennen? Der ist doch in Singapur, oder?»
«Nick wird nicht wollen, dass ein Haufen Erstsemester in seiner Wohnung rumtrampelt. Außerdem ist er Samstag vielleicht wieder da.»
«Zwei sind kein Haufen. Es wären nur ich und mein unglaublich ordentlicher Zimmergenosse aus Minnesota.»
«Bin ich wirklich», versicherte Joey ihr.
«Zweifellos», sagte sie null interessiert von ihren Zinnen herab. Gleichwohl schien Joey ihren Widerstand zu komplizieren — einen Fremden konnte sie nicht ganz so abtun wie ihren Bruder. «Ist mir völlig gleich», sagte sie. «Ich frage Nick. Aber wenn er nein sagt, könnt ihr nicht mit.»
Als sie zurück nach oben ging, hielt Jonathan Joey die Hand zu einem Abklatscher auf Kopfhöhe hin. «New York, New York», sagte er. «Wir können bestimmt auch bei Casey pennen, wenn Nick sich als die Arschgeige erweist, die er meistens ist. Das ist irgendwo an der Upper East Side.»
Joey war schier betäubt von Jennas Schönheit. Er schob sich zu der Stelle, wo sie gestanden hatte und es noch schwach nach Patschuli roch. Dass er möglicherweise ein ganzes Wochenende in ihrer Nähe verbringen würde, einfach durch den puren Zufall, dass er Jonathans Zimmergenosse war, erschien ihm wie ein Wunder.
«Du also auch, wie ich sehe», sagte Jonathan kopfschüttelnd. «Das ist die Geschichte meines jungen Lebens.»
Joey spürte, wie er errötete. «Ich kapiere nur nicht, wie du so hässlich werden konntest.»
«Ha, du weißt ja, was man über alte Eltern sagt. Mein Dad war bei meiner Geburt einundfünfzig. Zwei Jahre genetischer Niedergang machen da schon eine Menge aus. Nicht jeder Junge wird so schön wie du.»
«Hab gar nicht gewusst, dass du solche Neigungen hast.»
«Was für Neigungen? Schönheit interessiert mich nur bei Frauen, wo sie auch hingehört.»
«Leck mich, Luxusjunge.»
«Schönling, Schönling.»
«Leck mich. Gleich tret ich dir beim Air Hockey in den Arsch.»
«Solange du nichts anderes mit ihm vorhast.»
Ungeachtet Tamaras Drohung, kam es während Joeys Aufenthalt in McLean zum Glück kaum zu religiöser Unterweisung oder sonstigen elterlichen Einflussnahmen. Er und Jonathan richteten sich im Souterrainkino ein, in dem es Liegesitze und eine zweieinhalb Meter hohe Leinwand gab, und blieben dort bis vier Uhr morgens, damit befasst, schlechte Fernsehsendungen zu sehen und einander mit homophoben Sprüchen zu traktieren. Als sie dann an Thanksgiving endlich aufstanden, trafen schon Massen Verwandte ein. Da sich Jonathan mit ihnen unterhalten musste, schwebte Joey wie ein Heliummolekül durch die prächtigen Räume und gab sich dem Arrangement von Sichtachsen hin, durch die Jenna hindurchschreiten oder, noch besser, in denen sie sich niederlassen würde. Der anstehende Ausflug nach New York, den ihr Freund überraschenderweise abgesegnet hatte, war wie Geld auf der Bank: Joey würde mindestens zwei ausgedehnte Autofahrten lang Zeit haben, um Eindruck auf sie zu machen. Vorerst wollte er nur seine Augen an sie gewöhnen, das Hinsehen weniger unmöglich werden lassen. Sie trug ein züchtig hochgeschlossenes Kleid, ein sympathisches Kleid, und war entweder sehr geschickt mit Make-up oder hatte davon nicht viel aufgelegt. Er nahm ihre guten Manieren zur Kenntnis, die sich darin manifestierten, dass sie mit kahlköpfigen Onkeln und gelifteten Tanten, die ihr anscheinend viel zu sagen hatten, geduldig war.
Читать дальше